gegen alle Neuerungen wieder geltend zu machen ge¬ sucht. Was gestern heterodox gewesen, ist heute wie¬ der orthodox geworden. Was gestern als Indivi¬ dualität eines großen Mannes aufgetreten, wird heute wieder zur despotischen Manier einer Schule. Der Grund dieser Erscheinung muß aber nicht allein in den Fortwirkungen des Mittelalters, sondern auch im Charakter des Volks selbst gesucht werden. Der Deutsche glüht für die Erkenntniß der Wahrheit, und will sie anerkannt wissen. Es ist dieselbe Be¬ geisterung, die ihn zum Beharren und zum Refor¬ miren antreibt.
Unstreitig ist vieles Gute an den Zunftgeist ge¬ knüpft. Die Treue, mit welcher die Schätze der Tradition bewahrt werden; die Würde, die der Au¬ torität gerettet wird; die Begeisterung und Pietät, mit welchem man das Geheiligte, Erprobte oder Ge¬ glaubte verehrt; alle jene Tugenden, welche die An¬ hänglichkeit an das Alte zu begleiten pflegen, müssen in ihrem ganzen Werth anerkannt werden, wenn wir sie dem Leichtsinn vieler Neurer gegenüberstellen, der so oft alle moralische Autorität, alle historische Tra¬ dition, und mit der alten Schule auch die alte Er¬ fahrung über den Haufen wirft. Das Kranke je¬ nes Zunftgeistes aber ist das Princip der Stabilität, das Stillestehen, wo ewiger Fortschritt ist, die Bor¬ nirtheit, die Schranken statuirt, wo keine sind. Hier¬ aus fließt mit Nothwendigkeit einerseits ein hierar¬ chisches System, Kastenzwang, Parteisucht, Prosely¬
gegen alle Neuerungen wieder geltend zu machen ge¬ ſucht. Was geſtern heterodox geweſen, iſt heute wie¬ der orthodox geworden. Was geſtern als Indivi¬ dualitaͤt eines großen Mannes aufgetreten, wird heute wieder zur deſpotiſchen Manier einer Schule. Der Grund dieſer Erſcheinung muß aber nicht allein in den Fortwirkungen des Mittelalters, ſondern auch im Charakter des Volks ſelbſt geſucht werden. Der Deutſche gluͤht fuͤr die Erkenntniß der Wahrheit, und will ſie anerkannt wiſſen. Es iſt dieſelbe Be¬ geiſterung, die ihn zum Beharren und zum Refor¬ miren antreibt.
Unſtreitig iſt vieles Gute an den Zunftgeiſt ge¬ knuͤpft. Die Treue, mit welcher die Schaͤtze der Tradition bewahrt werden; die Wuͤrde, die der Au¬ toritaͤt gerettet wird; die Begeiſterung und Pietaͤt, mit welchem man das Geheiligte, Erprobte oder Ge¬ glaubte verehrt; alle jene Tugenden, welche die An¬ haͤnglichkeit an das Alte zu begleiten pflegen, muͤſſen in ihrem ganzen Werth anerkannt werden, wenn wir ſie dem Leichtſinn vieler Neurer gegenuͤberſtellen, der ſo oft alle moraliſche Autoritaͤt, alle hiſtoriſche Tra¬ dition, und mit der alten Schule auch die alte Er¬ fahrung uͤber den Haufen wirft. Das Kranke je¬ nes Zunftgeiſtes aber iſt das Princip der Stabilitaͤt, das Stilleſtehen, wo ewiger Fortſchritt iſt, die Bor¬ nirtheit, die Schranken ſtatuirt, wo keine ſind. Hier¬ aus fließt mit Nothwendigkeit einerſeits ein hierar¬ chiſches Syſtem, Kaſtenzwang, Parteiſucht, Proſely¬
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gegen alle Neuerungen wieder geltend zu machen ge¬
ſucht. Was geſtern heterodox geweſen, iſt heute wie¬
der orthodox geworden. Was geſtern als Indivi¬
dualitaͤt eines großen Mannes aufgetreten, wird
heute wieder zur deſpotiſchen Manier einer Schule.
Der Grund dieſer Erſcheinung muß aber nicht allein
in den Fortwirkungen des Mittelalters, ſondern auch
im Charakter des Volks ſelbſt geſucht werden. Der
Deutſche gluͤht fuͤr die Erkenntniß der Wahrheit,
und will ſie anerkannt wiſſen. Es iſt dieſelbe Be¬
geiſterung, die ihn zum Beharren und zum Refor¬
miren antreibt.
Unſtreitig iſt vieles Gute an den Zunftgeiſt ge¬
knuͤpft. Die Treue, mit welcher die Schaͤtze der
Tradition bewahrt werden; die Wuͤrde, die der Au¬
toritaͤt gerettet wird; die Begeiſterung und Pietaͤt,
mit welchem man das Geheiligte, Erprobte oder Ge¬
glaubte verehrt; alle jene Tugenden, welche die An¬
haͤnglichkeit an das Alte zu begleiten pflegen,
muͤſſen in ihrem ganzen Werth anerkannt werden, wenn
wir ſie dem Leichtſinn vieler Neurer gegenuͤberſtellen, der
ſo oft alle moraliſche Autoritaͤt, alle hiſtoriſche Tra¬
dition, und mit der alten Schule auch die alte Er¬
fahrung uͤber den Haufen wirft. Das Kranke je¬
nes Zunftgeiſtes aber iſt das Princip der Stabilitaͤt,
das Stilleſtehen, wo ewiger Fortſchritt iſt, die Bor¬
nirtheit, die Schranken ſtatuirt, wo keine ſind. Hier¬
aus fließt mit Nothwendigkeit einerſeits ein hierar¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/45>, abgerufen am 16.02.2025.
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