wollen nur die Früchte eines fremden Denkens und Handelns genießen, die aber der Trägheit beständig wie dem Tantalus entfliehen; bald fürchten sie, den Alten nicht mehr gleichen zu können und machen sich träg aus Resignation.
Allerdings spiegelt die Literatur das Leben nicht nur umfassender, sondern auch reiner, als irgend ein andres Denkmal, weil kein andres Darstellungsmit¬ tel den Umfang und die Tiefe der Sprache darbietet. Doch hat die Sprache Grenzen, und nur das Leben keine. Den Abgrund des Lebens hat noch kein Buch geschlossen. Es sind nur Saiten, die in euch ange¬ schlagen werden, wenn ihr ein Buch leset, die un¬ endliche Harmonie, die in eurem wie in aller Leben schlummert, hat noch kein Buch ganz ergriffen. Darum hoffet nimmer in jenen Notenbüchern den Schlüssel zu allen Tönen des Lebens zu finden, und begrabt euch nicht zu sehr in den Schulstuben, laßt euch viel¬ mehr gerne und oft vom frischen Lebenswinde die innere Äolsharfe frei und natürlich, sanft und stür¬ misch bewegen.
Die Literatur sey immer nur ein Mittel unsres Lebens, nie der Zweck, dem allein wir es zum Opfer brächten. Wohl ist es herrlich, an der Erinnerung des vergangenen Lebens das gegenwärtige zu spie¬ geln und zu bilden, auf die Mitwelt durch das Wort zu wirken und der Nachwelt ein Gedächtniß unsres Lebens zu überliefern, wenn es des Gedächtnisses
wollen nur die Fruͤchte eines fremden Denkens und Handelns genießen, die aber der Traͤgheit beſtaͤndig wie dem Tantalus entfliehen; bald fuͤrchten ſie, den Alten nicht mehr gleichen zu koͤnnen und machen ſich traͤg aus Reſignation.
Allerdings ſpiegelt die Literatur das Leben nicht nur umfaſſender, ſondern auch reiner, als irgend ein andres Denkmal, weil kein andres Darſtellungsmit¬ tel den Umfang und die Tiefe der Sprache darbietet. Doch hat die Sprache Grenzen, und nur das Leben keine. Den Abgrund des Lebens hat noch kein Buch geſchloſſen. Es ſind nur Saiten, die in euch ange¬ ſchlagen werden, wenn ihr ein Buch leſet, die un¬ endliche Harmonie, die in eurem wie in aller Leben ſchlummert, hat noch kein Buch ganz ergriffen. Darum hoffet nimmer in jenen Notenbuͤchern den Schluͤſſel zu allen Toͤnen des Lebens zu finden, und begrabt euch nicht zu ſehr in den Schulſtuben, laßt euch viel¬ mehr gerne und oft vom friſchen Lebenswinde die innere Äolsharfe frei und natuͤrlich, ſanft und ſtuͤr¬ miſch bewegen.
Die Literatur ſey immer nur ein Mittel unſres Lebens, nie der Zweck, dem allein wir es zum Opfer braͤchten. Wohl iſt es herrlich, an der Erinnerung des vergangenen Lebens das gegenwaͤrtige zu ſpie¬ geln und zu bilden, auf die Mitwelt durch das Wort zu wirken und der Nachwelt ein Gedaͤchtniß unſres Lebens zu uͤberliefern, wenn es des Gedaͤchtniſſes
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wollen nur die Fruͤchte eines fremden Denkens und
Handelns genießen, die aber der Traͤgheit beſtaͤndig
wie dem Tantalus entfliehen; bald fuͤrchten ſie, den
Alten nicht mehr gleichen zu koͤnnen und machen ſich
traͤg aus Reſignation.
Allerdings ſpiegelt die Literatur das Leben nicht
nur umfaſſender, ſondern auch reiner, als irgend ein
andres Denkmal, weil kein andres Darſtellungsmit¬
tel den Umfang und die Tiefe der Sprache darbietet.
Doch hat die Sprache Grenzen, und nur das Leben
keine. Den Abgrund des Lebens hat noch kein Buch
geſchloſſen. Es ſind nur Saiten, die in euch ange¬
ſchlagen werden, wenn ihr ein Buch leſet, die un¬
endliche Harmonie, die in eurem wie in aller Leben
ſchlummert, hat noch kein Buch ganz ergriffen. Darum
hoffet nimmer in jenen Notenbuͤchern den Schluͤſſel
zu allen Toͤnen des Lebens zu finden, und begrabt
euch nicht zu ſehr in den Schulſtuben, laßt euch viel¬
mehr gerne und oft vom friſchen Lebenswinde die
innere Äolsharfe frei und natuͤrlich, ſanft und ſtuͤr¬
miſch bewegen.
Die Literatur ſey immer nur ein Mittel unſres
Lebens, nie der Zweck, dem allein wir es zum Opfer
braͤchten. Wohl iſt es herrlich, an der Erinnerung
des vergangenen Lebens das gegenwaͤrtige zu ſpie¬
geln und zu bilden, auf die Mitwelt durch das Wort
zu wirken und der Nachwelt ein Gedaͤchtniß unſres
Lebens zu uͤberliefern, wenn es des Gedaͤchtniſſes
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/23>, abgerufen am 16.07.2024.
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