Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.nichts verwerfen oder verbessern, sondern nimmt die Im Allgemeinen hat unsre Geschichtforschung fol¬ nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0216" n="206"/> nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die<lb/> Dinge, wie ſie ſind, und mißt jedes nur nach dem<lb/> in ihm liegenden Maaßſtab. Sie wird z. B. das Mit¬<lb/> telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬<lb/> tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬<lb/> ſen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begruͤndet<lb/> ſind, ſondern ſie wird es abgeſehn von unſern gegen¬<lb/> waͤrtigen Intereſſen nach den Intereſſen ſeines Vol¬<lb/> kes, ſeines Geiſtes wuͤrdigen. Sie wird es fuͤr uͤber¬<lb/> fluͤßig halten, von jenen Menſchen zu verlangen, was<lb/> nur fuͤr die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was<lb/> ſie fuͤr wuͤnſchenswerth und heilig gehalten haben,<lb/> weder beneiden, noch verſpotten, ſondern ſie nach<lb/> ihrem eignen Glauben waͤgen und ſchaͤtzen. Erſt da¬<lb/> durch wird die Geſchichte, was ſie ſeyn ſoll, ein<lb/> treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann ſie<lb/> nicht objectiv genug auffaſſen; jede ſubjective Aus¬<lb/> ſchweifung truͤbt ihren Spiegel. Gloſſen mag die<lb/> Philoſophie machen, der Geſchichte ſelbſt gilt nur<lb/> der einfache Text.</p><lb/> <p>Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬<lb/> gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjaͤhrigen<lb/> Kriege fielen die Deutſchen in Lethargie und erwach¬<lb/> ten erſt im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften<lb/> Traͤumen. Zu den Erſcheinungen jener phlegmatiſchen<lb/> Zeit gehoͤren auch die langweiligen hiſtoriſchen <hi rendition="#g">Samm¬<lb/> lungen</hi> und Commentare, zu denen der choleriſchen<lb/> Extaſe gehoͤrt der hiſtoriſche <hi rendition="#g">Scepticismus</hi> des<lb/> vorigen Jahrhunderts. Überall ſahen wir zuerſt einen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [206/0216]
nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die
Dinge, wie ſie ſind, und mißt jedes nur nach dem
in ihm liegenden Maaßſtab. Sie wird z. B. das Mit¬
telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬
tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬
ſen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begruͤndet
ſind, ſondern ſie wird es abgeſehn von unſern gegen¬
waͤrtigen Intereſſen nach den Intereſſen ſeines Vol¬
kes, ſeines Geiſtes wuͤrdigen. Sie wird es fuͤr uͤber¬
fluͤßig halten, von jenen Menſchen zu verlangen, was
nur fuͤr die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was
ſie fuͤr wuͤnſchenswerth und heilig gehalten haben,
weder beneiden, noch verſpotten, ſondern ſie nach
ihrem eignen Glauben waͤgen und ſchaͤtzen. Erſt da¬
durch wird die Geſchichte, was ſie ſeyn ſoll, ein
treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann ſie
nicht objectiv genug auffaſſen; jede ſubjective Aus¬
ſchweifung truͤbt ihren Spiegel. Gloſſen mag die
Philoſophie machen, der Geſchichte ſelbſt gilt nur
der einfache Text.
Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬
gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjaͤhrigen
Kriege fielen die Deutſchen in Lethargie und erwach¬
ten erſt im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften
Traͤumen. Zu den Erſcheinungen jener phlegmatiſchen
Zeit gehoͤren auch die langweiligen hiſtoriſchen Samm¬
lungen und Commentare, zu denen der choleriſchen
Extaſe gehoͤrt der hiſtoriſche Scepticismus des
vorigen Jahrhunderts. Überall ſahen wir zuerſt einen
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