Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

ist geschärft worden, und die poetische Ausbildung
der Sprache hat auch ihren wohlthätigen Einfluß
auf die Geschichtschreibung geübt. Ein wahrhaft gro¬
ßer Schwung ist aber in dies Studium erst durch
die großen historischen Ereignisse der Zeit selbst ge¬
kommen. Alle Wunder der Geschichte sind sichtbar
an uns vorübergegangen, und was wir mit eignen
Augen gesehen, erklärt uns die Vergangenheit. Eigne
Thaten und Leiden haben uns jene Alten verständ¬
lich gemacht, und indem wir selbst gewaltige Charak¬
tere über die Weltbühne schreiten gesehn, nennen wir
nicht mehr bloße Namen des Alterthums und zählen
ihre Thaten, sondern wir erkennen sie und leben mit
ihnen. Auch ist der Umstand nicht unwichtig, daß
eben jene Stürme unsrer Zeit so viele Schranken
niedergeworfen, die ehemals das Studium hemmten,
und so viele Schätze zugänglich gemacht, die ehemals
im Dunkeln moderten. Viele Staatsgewalten, die
sonst ihre Archive geheim zu halten für nöthig fan¬
den, sind zerstört und ihre Annalen dem Geschichts¬
forscher in die Hand gegeben. Viele Bibliotheken,
die religiöses Mißtrauen verschloß, sind geöffnet;
viele literarische Schätze, die das Kloster oder die
Reichsstadt, in der sie verborgen lagen, nicht ein¬
mal kannte, sind ans Licht gezogen worden. Die
heilsamste aller dieser Veränderungen ist aber unstrei¬
tig das Centralisiren vieler kleiner Bibliotheken in
eine große jeder Provinz, wodurch allein es möglich
wird, über die Mannigfaltigkeit der historischen Ur¬

iſt geſchaͤrft worden, und die poetiſche Ausbildung
der Sprache hat auch ihren wohlthaͤtigen Einfluß
auf die Geſchichtſchreibung geuͤbt. Ein wahrhaft gro¬
ßer Schwung iſt aber in dies Studium erſt durch
die großen hiſtoriſchen Ereigniſſe der Zeit ſelbſt ge¬
kommen. Alle Wunder der Geſchichte ſind ſichtbar
an uns voruͤbergegangen, und was wir mit eignen
Augen geſehen, erklaͤrt uns die Vergangenheit. Eigne
Thaten und Leiden haben uns jene Alten verſtaͤnd¬
lich gemacht, und indem wir ſelbſt gewaltige Charak¬
tere uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten geſehn, nennen wir
nicht mehr bloße Namen des Alterthums und zaͤhlen
ihre Thaten, ſondern wir erkennen ſie und leben mit
ihnen. Auch iſt der Umſtand nicht unwichtig, daß
eben jene Stuͤrme unſrer Zeit ſo viele Schranken
niedergeworfen, die ehemals das Studium hemmten,
und ſo viele Schaͤtze zugaͤnglich gemacht, die ehemals
im Dunkeln moderten. Viele Staatsgewalten, die
ſonſt ihre Archive geheim zu halten fuͤr noͤthig fan¬
den, ſind zerſtoͤrt und ihre Annalen dem Geſchichts¬
forſcher in die Hand gegeben. Viele Bibliotheken,
die religioͤſes Mißtrauen verſchloß, ſind geoͤffnet;
viele literariſche Schaͤtze, die das Kloſter oder die
Reichsſtadt, in der ſie verborgen lagen, nicht ein¬
mal kannte, ſind ans Licht gezogen worden. Die
heilſamſte aller dieſer Veraͤnderungen iſt aber unſtrei¬
tig das Centraliſiren vieler kleiner Bibliotheken in
eine große jeder Provinz, wodurch allein es moͤglich
wird, uͤber die Mannigfaltigkeit der hiſtoriſchen Ur¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0210" n="200"/>
i&#x017F;t ge&#x017F;cha&#x0364;rft worden, und die poeti&#x017F;che Ausbildung<lb/>
der Sprache hat auch ihren wohltha&#x0364;tigen Einfluß<lb/>
auf die Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibung geu&#x0364;bt. Ein wahrhaft gro¬<lb/>
ßer Schwung i&#x017F;t aber in dies Studium er&#x017F;t durch<lb/>
die großen hi&#x017F;tori&#x017F;chen Ereigni&#x017F;&#x017F;e der Zeit &#x017F;elb&#x017F;t ge¬<lb/>
kommen. Alle Wunder der Ge&#x017F;chichte &#x017F;ind &#x017F;ichtbar<lb/>
an uns voru&#x0364;bergegangen, und was wir mit eignen<lb/>
Augen ge&#x017F;ehen, erkla&#x0364;rt uns die Vergangenheit. Eigne<lb/>
Thaten und Leiden haben uns jene Alten ver&#x017F;ta&#x0364;nd¬<lb/>
lich gemacht, und indem wir &#x017F;elb&#x017F;t gewaltige Charak¬<lb/>
tere u&#x0364;ber die Weltbu&#x0364;hne &#x017F;chreiten ge&#x017F;ehn, nennen wir<lb/>
nicht mehr bloße Namen des Alterthums und za&#x0364;hlen<lb/>
ihre Thaten, &#x017F;ondern wir erkennen &#x017F;ie und leben mit<lb/>
ihnen. Auch i&#x017F;t der Um&#x017F;tand nicht unwichtig, daß<lb/>
eben jene Stu&#x0364;rme un&#x017F;rer Zeit &#x017F;o viele Schranken<lb/>
niedergeworfen, die ehemals das Studium hemmten,<lb/>
und &#x017F;o viele Scha&#x0364;tze zuga&#x0364;nglich gemacht, die ehemals<lb/>
im Dunkeln moderten. Viele Staatsgewalten, die<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t ihre Archive geheim zu halten fu&#x0364;r no&#x0364;thig fan¬<lb/>
den, &#x017F;ind zer&#x017F;to&#x0364;rt und ihre Annalen dem Ge&#x017F;chichts¬<lb/>
for&#x017F;cher in die Hand gegeben. Viele Bibliotheken,<lb/>
die religio&#x0364;&#x017F;es Mißtrauen ver&#x017F;chloß, &#x017F;ind geo&#x0364;ffnet;<lb/>
viele literari&#x017F;che Scha&#x0364;tze, die das Klo&#x017F;ter oder die<lb/>
Reichs&#x017F;tadt, in der &#x017F;ie verborgen lagen, nicht ein¬<lb/>
mal kannte, &#x017F;ind ans Licht gezogen worden. Die<lb/>
heil&#x017F;am&#x017F;te aller die&#x017F;er Vera&#x0364;nderungen i&#x017F;t aber un&#x017F;trei¬<lb/>
tig das Centrali&#x017F;iren vieler kleiner Bibliotheken in<lb/>
eine große jeder Provinz, wodurch allein es mo&#x0364;glich<lb/>
wird, u&#x0364;ber die Mannigfaltigkeit der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Ur¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0210] iſt geſchaͤrft worden, und die poetiſche Ausbildung der Sprache hat auch ihren wohlthaͤtigen Einfluß auf die Geſchichtſchreibung geuͤbt. Ein wahrhaft gro¬ ßer Schwung iſt aber in dies Studium erſt durch die großen hiſtoriſchen Ereigniſſe der Zeit ſelbſt ge¬ kommen. Alle Wunder der Geſchichte ſind ſichtbar an uns voruͤbergegangen, und was wir mit eignen Augen geſehen, erklaͤrt uns die Vergangenheit. Eigne Thaten und Leiden haben uns jene Alten verſtaͤnd¬ lich gemacht, und indem wir ſelbſt gewaltige Charak¬ tere uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten geſehn, nennen wir nicht mehr bloße Namen des Alterthums und zaͤhlen ihre Thaten, ſondern wir erkennen ſie und leben mit ihnen. Auch iſt der Umſtand nicht unwichtig, daß eben jene Stuͤrme unſrer Zeit ſo viele Schranken niedergeworfen, die ehemals das Studium hemmten, und ſo viele Schaͤtze zugaͤnglich gemacht, die ehemals im Dunkeln moderten. Viele Staatsgewalten, die ſonſt ihre Archive geheim zu halten fuͤr noͤthig fan¬ den, ſind zerſtoͤrt und ihre Annalen dem Geſchichts¬ forſcher in die Hand gegeben. Viele Bibliotheken, die religioͤſes Mißtrauen verſchloß, ſind geoͤffnet; viele literariſche Schaͤtze, die das Kloſter oder die Reichsſtadt, in der ſie verborgen lagen, nicht ein¬ mal kannte, ſind ans Licht gezogen worden. Die heilſamſte aller dieſer Veraͤnderungen iſt aber unſtrei¬ tig das Centraliſiren vieler kleiner Bibliotheken in eine große jeder Provinz, wodurch allein es moͤglich wird, uͤber die Mannigfaltigkeit der hiſtoriſchen Ur¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/210
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/210>, abgerufen am 24.11.2024.