Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

sich sogar verfolgt, nur ein freier innerer Drang
kann dazu bestimmen.

Der Pietismus findet am meisten Anhang unter
den niedern Klassen der Gesellschaft, theils weil diese
minder verdorben sind als die höhern, theils weil sie
nicht so sehr in den Genüssen der Erde schwelgen,
um den Himmel darüber zu vergessen. Da, wo das
feine Gift der Unsittlichkeit und die hochmüthige Welt¬
klugheit noch nicht so tief eingedrungen, ist das Ge¬
müth noch frisch und stark, der höchsten und längsten
Entzückung fähig. Und da, wo äußerlich Noth und
Mangel, Verachtung und Unfreiheit herrschen, sucht
der Mensch sich gern die innerliche Freiheit, das in¬
nerliche Glück. Es sucht den Himmel, wem die Erde
nichts bietet. Und sollen wir die innere lebendige
Wärme, welche die großen Massen des Volks im Pie¬
tismus ergriffen und sie freundlich schirmt gegen den
Frost des Lebens, sollen wir den blühenden Sinn
für Liebe, der in die kleine Gesellschaft flüchtet, weil
ihn die große zurückstößt, sollen wir die innre Erhe¬
bung mißbilligen und verdammen, die den Frommen
den letzten Rest von menschlicher Würde sichert, wenn
Niedrigkeit, Armuth und Laster sich verbunden, sie
niederzutreten. Es ist der niedrigste Stand, es sind
die Armen, welche die Massen der pietistischen Ge¬
sellschaften bilden. Ist es nicht ein schöner Zug die¬
ses Volks, daß es in der eignen Brust den Stern
findet, der ihm in der Nacht des Lebens leuchtet?
Ist diese verachtete Frömmigkeit nicht die einzige Schutz¬

ſich ſogar verfolgt, nur ein freier innerer Drang
kann dazu beſtimmen.

Der Pietismus findet am meiſten Anhang unter
den niedern Klaſſen der Geſellſchaft, theils weil dieſe
minder verdorben ſind als die hoͤhern, theils weil ſie
nicht ſo ſehr in den Genuͤſſen der Erde ſchwelgen,
um den Himmel daruͤber zu vergeſſen. Da, wo das
feine Gift der Unſittlichkeit und die hochmuͤthige Welt¬
klugheit noch nicht ſo tief eingedrungen, iſt das Ge¬
muͤth noch friſch und ſtark, der hoͤchſten und laͤngſten
Entzuͤckung faͤhig. Und da, wo aͤußerlich Noth und
Mangel, Verachtung und Unfreiheit herrſchen, ſucht
der Menſch ſich gern die innerliche Freiheit, das in¬
nerliche Gluͤck. Es ſucht den Himmel, wem die Erde
nichts bietet. Und ſollen wir die innere lebendige
Waͤrme, welche die großen Maſſen des Volks im Pie¬
tismus ergriffen und ſie freundlich ſchirmt gegen den
Froſt des Lebens, ſollen wir den bluͤhenden Sinn
fuͤr Liebe, der in die kleine Geſellſchaft fluͤchtet, weil
ihn die große zuruͤckſtoͤßt, ſollen wir die innre Erhe¬
bung mißbilligen und verdammen, die den Frommen
den letzten Reſt von menſchlicher Wuͤrde ſichert, wenn
Niedrigkeit, Armuth und Laſter ſich verbunden, ſie
niederzutreten. Es iſt der niedrigſte Stand, es ſind
die Armen, welche die Maſſen der pietiſtiſchen Ge¬
ſellſchaften bilden. Iſt es nicht ein ſchoͤner Zug die¬
ſes Volks, daß es in der eignen Bruſt den Stern
findet, der ihm in der Nacht des Lebens leuchtet?
Iſt dieſe verachtete Froͤmmigkeit nicht die einzige Schutz¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0163" n="153"/>
&#x017F;ich &#x017F;ogar verfolgt, nur ein freier innerer Drang<lb/>
kann dazu be&#x017F;timmen.</p><lb/>
        <p>Der Pietismus findet am mei&#x017F;ten Anhang unter<lb/>
den niedern Kla&#x017F;&#x017F;en der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, theils weil die&#x017F;e<lb/>
minder verdorben &#x017F;ind als die ho&#x0364;hern, theils weil &#x017F;ie<lb/>
nicht &#x017F;o &#x017F;ehr in den Genu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en der Erde &#x017F;chwelgen,<lb/>
um den Himmel daru&#x0364;ber zu verge&#x017F;&#x017F;en. Da, wo das<lb/>
feine Gift der Un&#x017F;ittlichkeit und die hochmu&#x0364;thige Welt¬<lb/>
klugheit noch nicht &#x017F;o tief eingedrungen, i&#x017F;t das Ge¬<lb/>
mu&#x0364;th noch fri&#x017F;ch und &#x017F;tark, der ho&#x0364;ch&#x017F;ten und la&#x0364;ng&#x017F;ten<lb/>
Entzu&#x0364;ckung fa&#x0364;hig. Und da, wo a&#x0364;ußerlich Noth und<lb/>
Mangel, Verachtung und Unfreiheit herr&#x017F;chen, &#x017F;ucht<lb/>
der Men&#x017F;ch &#x017F;ich gern die innerliche Freiheit, das in¬<lb/>
nerliche Glu&#x0364;ck. Es &#x017F;ucht den Himmel, wem die Erde<lb/>
nichts bietet. Und &#x017F;ollen wir die innere lebendige<lb/>
Wa&#x0364;rme, welche die großen Ma&#x017F;&#x017F;en des Volks im Pie¬<lb/>
tismus ergriffen und &#x017F;ie freundlich &#x017F;chirmt gegen den<lb/>
Fro&#x017F;t des Lebens, &#x017F;ollen wir den blu&#x0364;henden Sinn<lb/>
fu&#x0364;r Liebe, der in die kleine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft flu&#x0364;chtet, weil<lb/>
ihn die große zuru&#x0364;ck&#x017F;to&#x0364;ßt, &#x017F;ollen wir die innre Erhe¬<lb/>
bung mißbilligen und verdammen, die den Frommen<lb/>
den letzten Re&#x017F;t von men&#x017F;chlicher Wu&#x0364;rde &#x017F;ichert, wenn<lb/>
Niedrigkeit, Armuth und La&#x017F;ter &#x017F;ich verbunden, &#x017F;ie<lb/>
niederzutreten. Es i&#x017F;t der niedrig&#x017F;te Stand, es &#x017F;ind<lb/>
die Armen, welche die Ma&#x017F;&#x017F;en der pieti&#x017F;ti&#x017F;chen Ge¬<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaften bilden. I&#x017F;t es nicht ein &#x017F;cho&#x0364;ner Zug die¬<lb/>
&#x017F;es Volks, daß es in der eignen Bru&#x017F;t den Stern<lb/>
findet, der ihm in der Nacht des Lebens leuchtet?<lb/>
I&#x017F;t die&#x017F;e verachtete Fro&#x0364;mmigkeit nicht die einzige Schutz¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0163] ſich ſogar verfolgt, nur ein freier innerer Drang kann dazu beſtimmen. Der Pietismus findet am meiſten Anhang unter den niedern Klaſſen der Geſellſchaft, theils weil dieſe minder verdorben ſind als die hoͤhern, theils weil ſie nicht ſo ſehr in den Genuͤſſen der Erde ſchwelgen, um den Himmel daruͤber zu vergeſſen. Da, wo das feine Gift der Unſittlichkeit und die hochmuͤthige Welt¬ klugheit noch nicht ſo tief eingedrungen, iſt das Ge¬ muͤth noch friſch und ſtark, der hoͤchſten und laͤngſten Entzuͤckung faͤhig. Und da, wo aͤußerlich Noth und Mangel, Verachtung und Unfreiheit herrſchen, ſucht der Menſch ſich gern die innerliche Freiheit, das in¬ nerliche Gluͤck. Es ſucht den Himmel, wem die Erde nichts bietet. Und ſollen wir die innere lebendige Waͤrme, welche die großen Maſſen des Volks im Pie¬ tismus ergriffen und ſie freundlich ſchirmt gegen den Froſt des Lebens, ſollen wir den bluͤhenden Sinn fuͤr Liebe, der in die kleine Geſellſchaft fluͤchtet, weil ihn die große zuruͤckſtoͤßt, ſollen wir die innre Erhe¬ bung mißbilligen und verdammen, die den Frommen den letzten Reſt von menſchlicher Wuͤrde ſichert, wenn Niedrigkeit, Armuth und Laſter ſich verbunden, ſie niederzutreten. Es iſt der niedrigſte Stand, es ſind die Armen, welche die Maſſen der pietiſtiſchen Ge¬ ſellſchaften bilden. Iſt es nicht ein ſchoͤner Zug die¬ ſes Volks, daß es in der eignen Bruſt den Stern findet, der ihm in der Nacht des Lebens leuchtet? Iſt dieſe verachtete Froͤmmigkeit nicht die einzige Schutz¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/163
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/163>, abgerufen am 27.11.2024.