Auf der andern Seite aber tritt das Volk, von dem¬ selben Unglauben geängstigt, desto leichter zum Pie¬ tismus über.
Da indeß das deutsche Volk ein ziemliches Phlegma auszeichnet, und sein Familienleben es über Theo¬ logie, Politik, Wissenschaft und Kunst leicht tröstet, so ist es bei dem unermeßlichen Widerstreit der re¬ ligiösen Ansichten einerseits, und bei dem leeren Wor¬ temachen andrerseits in einen Indifferentismus verfallen, der nichts ähnliches hat, als etwa die reli¬ giöse Gleichgültigkeit in der letzten Zeit des römi¬ schen Heidenthums. Dieser Indifferentismus zeigt sich insbesondere bei den Protestanten. Einige eifern, einige denken, die meisten sind gleichgültig, hören ihre Predigt, wie es Sitte ist, und lassen übrigens Gott einen guten Mann seyn. Schon dieß Sprich¬ wort zeigt von der Stimmung des Volkes. Wer ein tieferes religiöses Bedürfniß hat, wird Katholik oder Pietist. Die Katholiken sind durch ihren Glauben und durch die Äußerlichkeit desselben zu sehr befriedigt oder wenigstens in Anspruch genommen, als daß sie indifferent seyn könnten, doch hat sich die Gleichgül¬ tigkeit auch bei ihnen eingeschlichen, sofern es sehr viele unter ihnen gibt, die von protestantischer Bil¬ dung ergriffen, das Band, das sie bindet, abgewor¬ fen haben, und aus Bequemlichkeit kein neues knüpfen wollen. Sogar unter den Herrnhutern gibt es manche, die nur noch die Gewohnheit der Väter mitmachen, ohne dafür mit Überzeugung leben und sterben zu
Auf der andern Seite aber tritt das Volk, von dem¬ ſelben Unglauben geaͤngſtigt, deſto leichter zum Pie¬ tismus uͤber.
Da indeß das deutſche Volk ein ziemliches Phlegma auszeichnet, und ſein Familienleben es uͤber Theo¬ logie, Politik, Wiſſenſchaft und Kunſt leicht troͤſtet, ſo iſt es bei dem unermeßlichen Widerſtreit der re¬ ligioͤſen Anſichten einerſeits, und bei dem leeren Wor¬ temachen andrerſeits in einen Indifferentismus verfallen, der nichts aͤhnliches hat, als etwa die reli¬ gioͤſe Gleichguͤltigkeit in der letzten Zeit des roͤmi¬ ſchen Heidenthums. Dieſer Indifferentismus zeigt ſich insbeſondere bei den Proteſtanten. Einige eifern, einige denken, die meiſten ſind gleichguͤltig, hoͤren ihre Predigt, wie es Sitte iſt, und laſſen uͤbrigens Gott einen guten Mann ſeyn. Schon dieß Sprich¬ wort zeigt von der Stimmung des Volkes. Wer ein tieferes religioͤſes Beduͤrfniß hat, wird Katholik oder Pietiſt. Die Katholiken ſind durch ihren Glauben und durch die Äußerlichkeit deſſelben zu ſehr befriedigt oder wenigſtens in Anſpruch genommen, als daß ſie indifferent ſeyn koͤnnten, doch hat ſich die Gleichguͤl¬ tigkeit auch bei ihnen eingeſchlichen, ſofern es ſehr viele unter ihnen gibt, die von proteſtantiſcher Bil¬ dung ergriffen, das Band, das ſie bindet, abgewor¬ fen haben, und aus Bequemlichkeit kein neues knuͤpfen wollen. Sogar unter den Herrnhutern gibt es manche, die nur noch die Gewohnheit der Vaͤter mitmachen, ohne dafuͤr mit Überzeugung leben und ſterben zu
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Auf der andern Seite aber tritt das Volk, von dem¬
ſelben Unglauben geaͤngſtigt, deſto leichter zum Pie¬
tismus uͤber.
Da indeß das deutſche Volk ein ziemliches Phlegma
auszeichnet, und ſein Familienleben es uͤber Theo¬
logie, Politik, Wiſſenſchaft und Kunſt leicht troͤſtet,
ſo iſt es bei dem unermeßlichen Widerſtreit der re¬
ligioͤſen Anſichten einerſeits, und bei dem leeren Wor¬
temachen andrerſeits in einen Indifferentismus
verfallen, der nichts aͤhnliches hat, als etwa die reli¬
gioͤſe Gleichguͤltigkeit in der letzten Zeit des roͤmi¬
ſchen Heidenthums. Dieſer Indifferentismus zeigt
ſich insbeſondere bei den Proteſtanten. Einige eifern,
einige denken, die meiſten ſind gleichguͤltig, hoͤren
ihre Predigt, wie es Sitte iſt, und laſſen uͤbrigens
Gott einen guten Mann ſeyn. Schon dieß Sprich¬
wort zeigt von der Stimmung des Volkes. Wer ein
tieferes religioͤſes Beduͤrfniß hat, wird Katholik oder
Pietiſt. Die Katholiken ſind durch ihren Glauben und
durch die Äußerlichkeit deſſelben zu ſehr befriedigt
oder wenigſtens in Anſpruch genommen, als daß ſie
indifferent ſeyn koͤnnten, doch hat ſich die Gleichguͤl¬
tigkeit auch bei ihnen eingeſchlichen, ſofern es ſehr
viele unter ihnen gibt, die von proteſtantiſcher Bil¬
dung ergriffen, das Band, das ſie bindet, abgewor¬
fen haben, und aus Bequemlichkeit kein neues knuͤpfen
wollen. Sogar unter den Herrnhutern gibt es manche,
die nur noch die Gewohnheit der Vaͤter mitmachen,
ohne dafuͤr mit Überzeugung leben und ſterben zu
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/146>, abgerufen am 17.02.2025.
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