die wenigsten eine lebendige Seele. Seine Verthei¬ diger selbst legen dem System von Satzungen und Vorschriften die Kraft bei, die ihn trägt und erhält, und seine Gegner zielen auf nichts anders, wenn sie mit Buchstaben gegen den Buchstaben anziehn, und eine Satzung durch die andre, eine Auslegung durch die andre zu vernichten trachten. Das Wesen des Katholicismus ist aber in keinem Buche zu suchen. Er ist auf keinen Buchstaben, sondern auf die Men¬ schen gebaut; verbrennt alle seine Bücher, und es wird Katholiken geben nach wie vor. Diese Bücher thun so wenig als der Name zur Sache. Namen ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Zwar entspricht der Katholicismus auch jetzt noch vorzugs¬ weise der sinnlichen Richtung, allein es liegt doch in ihm noch die Ahnung jener Mystik des Mittelalters, und sie ist es, die ihm die Herzen des Volks erhält. Noch liegt in ihm die Richtung nach organischer, den ganzen Menschen umfassenden Erkenntniß und Anbe¬ tung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemüth, der Verstand und das thätige Leben gleichen Antheil an der Religion des Katholiken. Nur in diesem Sinne ist die katholische eine allgemeine Kirche, denn nur jene organische Erkenntniß bietet gleich der Erde dem himmlischen Licht alle Seiten dar und ist deßfalls die einzige, die auf Allgemeinheit Anspruch machen kann. Was hier als Idee ausgesprochen ist, liegt wenig¬ stens als dunkel geahndetes Bedürfniß in der Seele des ungebildeten Katholiken und er findet es auch
die wenigſten eine lebendige Seele. Seine Verthei¬ diger ſelbſt legen dem Syſtem von Satzungen und Vorſchriften die Kraft bei, die ihn traͤgt und erhaͤlt, und ſeine Gegner zielen auf nichts anders, wenn ſie mit Buchſtaben gegen den Buchſtaben anziehn, und eine Satzung durch die andre, eine Auslegung durch die andre zu vernichten trachten. Das Weſen des Katholicismus iſt aber in keinem Buche zu ſuchen. Er iſt auf keinen Buchſtaben, ſondern auf die Men¬ ſchen gebaut; verbrennt alle ſeine Buͤcher, und es wird Katholiken geben nach wie vor. Dieſe Buͤcher thun ſo wenig als der Name zur Sache. Namen iſt Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Zwar entſpricht der Katholicismus auch jetzt noch vorzugs¬ weiſe der ſinnlichen Richtung, allein es liegt doch in ihm noch die Ahnung jener Myſtik des Mittelalters, und ſie iſt es, die ihm die Herzen des Volks erhaͤlt. Noch liegt in ihm die Richtung nach organiſcher, den ganzen Menſchen umfaſſenden Erkenntniß und Anbe¬ tung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemuͤth, der Verſtand und das thaͤtige Leben gleichen Antheil an der Religion des Katholiken. Nur in dieſem Sinne iſt die katholiſche eine allgemeine Kirche, denn nur jene organiſche Erkenntniß bietet gleich der Erde dem himmliſchen Licht alle Seiten dar und iſt deßfalls die einzige, die auf Allgemeinheit Anſpruch machen kann. Was hier als Idee ausgeſprochen iſt, liegt wenig¬ ſtens als dunkel geahndetes Beduͤrfniß in der Seele des ungebildeten Katholiken und er findet es auch
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0108"n="98"/>
die wenigſten eine lebendige Seele. Seine Verthei¬<lb/>
diger ſelbſt legen dem Syſtem von Satzungen und<lb/>
Vorſchriften die Kraft bei, die ihn traͤgt und erhaͤlt,<lb/>
und ſeine Gegner zielen auf nichts anders, wenn ſie<lb/>
mit Buchſtaben gegen den Buchſtaben anziehn, und<lb/>
eine Satzung durch die andre, eine Auslegung durch<lb/>
die andre zu vernichten trachten. Das Weſen des<lb/>
Katholicismus iſt aber in keinem Buche zu ſuchen.<lb/>
Er iſt auf keinen Buchſtaben, ſondern auf die Men¬<lb/>ſchen gebaut; verbrennt alle ſeine Buͤcher, und es<lb/>
wird Katholiken geben nach wie vor. Dieſe Buͤcher<lb/>
thun ſo wenig als der Name zur Sache. Namen iſt<lb/>
Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Zwar<lb/>
entſpricht der Katholicismus auch jetzt noch vorzugs¬<lb/>
weiſe der ſinnlichen Richtung, allein es liegt doch in<lb/>
ihm noch die Ahnung jener Myſtik des Mittelalters,<lb/>
und ſie iſt es, die ihm die Herzen des Volks erhaͤlt.<lb/>
Noch liegt in ihm die Richtung nach organiſcher, den<lb/>
ganzen Menſchen umfaſſenden Erkenntniß und Anbe¬<lb/>
tung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemuͤth,<lb/>
der Verſtand und das thaͤtige Leben gleichen Antheil<lb/>
an der Religion des Katholiken. Nur in dieſem Sinne<lb/>
iſt die katholiſche eine allgemeine Kirche, denn nur<lb/>
jene organiſche Erkenntniß bietet gleich der Erde dem<lb/>
himmliſchen Licht alle Seiten dar und iſt deßfalls die<lb/>
einzige, die auf Allgemeinheit Anſpruch machen kann.<lb/>
Was hier als Idee ausgeſprochen iſt, liegt wenig¬<lb/>ſtens als dunkel geahndetes Beduͤrfniß in der Seele<lb/>
des ungebildeten Katholiken und er findet es auch<lb/></p></div></body></text></TEI>
[98/0108]
die wenigſten eine lebendige Seele. Seine Verthei¬
diger ſelbſt legen dem Syſtem von Satzungen und
Vorſchriften die Kraft bei, die ihn traͤgt und erhaͤlt,
und ſeine Gegner zielen auf nichts anders, wenn ſie
mit Buchſtaben gegen den Buchſtaben anziehn, und
eine Satzung durch die andre, eine Auslegung durch
die andre zu vernichten trachten. Das Weſen des
Katholicismus iſt aber in keinem Buche zu ſuchen.
Er iſt auf keinen Buchſtaben, ſondern auf die Men¬
ſchen gebaut; verbrennt alle ſeine Buͤcher, und es
wird Katholiken geben nach wie vor. Dieſe Buͤcher
thun ſo wenig als der Name zur Sache. Namen iſt
Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Zwar
entſpricht der Katholicismus auch jetzt noch vorzugs¬
weiſe der ſinnlichen Richtung, allein es liegt doch in
ihm noch die Ahnung jener Myſtik des Mittelalters,
und ſie iſt es, die ihm die Herzen des Volks erhaͤlt.
Noch liegt in ihm die Richtung nach organiſcher, den
ganzen Menſchen umfaſſenden Erkenntniß und Anbe¬
tung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemuͤth,
der Verſtand und das thaͤtige Leben gleichen Antheil
an der Religion des Katholiken. Nur in dieſem Sinne
iſt die katholiſche eine allgemeine Kirche, denn nur
jene organiſche Erkenntniß bietet gleich der Erde dem
himmliſchen Licht alle Seiten dar und iſt deßfalls die
einzige, die auf Allgemeinheit Anſpruch machen kann.
Was hier als Idee ausgeſprochen iſt, liegt wenig¬
ſtens als dunkel geahndetes Beduͤrfniß in der Seele
des ungebildeten Katholiken und er findet es auch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/108>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.