Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.übertäuben. Wer die Gebete zählen mußte, konnte Da flüchtete das mißhandelte Herz, die Gott¬ uͤbertaͤuben. Wer die Gebete zaͤhlen mußte, konnte Da fluͤchtete das mißhandelte Herz, die Gott¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0100" n="90"/> uͤbertaͤuben. Wer die Gebete zaͤhlen mußte, konnte<lb/> nicht mehr beten. Was Wunder alſo, daß der Ver¬<lb/> ſtand mit ſeinem alles durchdringenden Blitz endlich<lb/> den ſtolzen Bau jener Kirche zerriß. Als er aber<lb/> einmal zur Herrſchaft gekommen, war es eben ſo na¬<lb/> tuͤrlich, daß er ſeinerſeits in einſeitige Übertreibung<lb/> verfiel. Er mißtraute jener Sinnlichkeit, der er einſt<lb/> erlegen war, und verdammte mit den aͤußern Zeichen<lb/> auch die Offenbarung Gottes in der Schoͤnheit, ja<lb/> viele ſeiner Verfechter waͤhlten die Haͤßlichkeit mit<lb/> Vorliebe, um nur jenem Einfluß der Schoͤnheit zu<lb/> begegnen. Das Gefuͤhl aber konnte nicht aufkommen<lb/> gegen die kriegeriſche Beſonnenheit jener Verſtaͤndi¬<lb/> gen, die in ihm zwar keinen Feind, doch einen zwei¬<lb/> deutigen Nachbar erkannten, bei welchem der Feind<lb/> leicht Poſto faſſen koͤnnte, die ihm daher die Feſſeln<lb/> des Wortes anlegten, wie der Katholicismus ihm<lb/> einſt die der Werkthaͤtigkeit aufgedrungen.</p><lb/> <p>Da fluͤchtete das mißhandelte Herz, die Gott¬<lb/> trunkenheit andaͤchtiger Seelen in die verfolgten Sek¬<lb/> ten des Pietismus. Aber auch ſie ſind in einer<lb/> ſchroffen Einſeitigkeit befangen, worin ſie beſonders<lb/> die Verfolgung fortwaͤhrend erhaͤlt. Sie ſind gleich¬<lb/> ſam ertrunken und aufgeloͤst in Gefuͤhlen und koͤn¬<lb/> nen weder die Wirklichkeit des Goͤttlichen, wie die<lb/> Katholiken, noch das Geſetz des Goͤttlichen, wie die<lb/> Proteſtanten, erfaſſen. Sie ſchwimmen im Nebelhaf¬<lb/> ten und Formloſen. Sie mißtrauen der Sinnlichkeit,<lb/> weil ſie dieſelbe fuͤr eine Feſſel halten, weil ſie vom<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [90/0100]
uͤbertaͤuben. Wer die Gebete zaͤhlen mußte, konnte
nicht mehr beten. Was Wunder alſo, daß der Ver¬
ſtand mit ſeinem alles durchdringenden Blitz endlich
den ſtolzen Bau jener Kirche zerriß. Als er aber
einmal zur Herrſchaft gekommen, war es eben ſo na¬
tuͤrlich, daß er ſeinerſeits in einſeitige Übertreibung
verfiel. Er mißtraute jener Sinnlichkeit, der er einſt
erlegen war, und verdammte mit den aͤußern Zeichen
auch die Offenbarung Gottes in der Schoͤnheit, ja
viele ſeiner Verfechter waͤhlten die Haͤßlichkeit mit
Vorliebe, um nur jenem Einfluß der Schoͤnheit zu
begegnen. Das Gefuͤhl aber konnte nicht aufkommen
gegen die kriegeriſche Beſonnenheit jener Verſtaͤndi¬
gen, die in ihm zwar keinen Feind, doch einen zwei¬
deutigen Nachbar erkannten, bei welchem der Feind
leicht Poſto faſſen koͤnnte, die ihm daher die Feſſeln
des Wortes anlegten, wie der Katholicismus ihm
einſt die der Werkthaͤtigkeit aufgedrungen.
Da fluͤchtete das mißhandelte Herz, die Gott¬
trunkenheit andaͤchtiger Seelen in die verfolgten Sek¬
ten des Pietismus. Aber auch ſie ſind in einer
ſchroffen Einſeitigkeit befangen, worin ſie beſonders
die Verfolgung fortwaͤhrend erhaͤlt. Sie ſind gleich¬
ſam ertrunken und aufgeloͤst in Gefuͤhlen und koͤn¬
nen weder die Wirklichkeit des Goͤttlichen, wie die
Katholiken, noch das Geſetz des Goͤttlichen, wie die
Proteſtanten, erfaſſen. Sie ſchwimmen im Nebelhaf¬
ten und Formloſen. Sie mißtrauen der Sinnlichkeit,
weil ſie dieſelbe fuͤr eine Feſſel halten, weil ſie vom
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |