ten Besoldung werden, oder was er sonst für seine unüberwindliche Wahrheitsliebe leiden soll.
Mich dünkt, keiner von diesen Wegen sey unter allen Umständen schlechterdings zu ver- werfen. Ich kann mir eine Verfassung denken in welcher es vor dem Richterstuhle des allge- rechten Richters zu entschuldigen ist, wenn man fortfährt, seinem sonst heilsamen Vor- trage gemeinnütziger Wahrheiten, eine Unwahr- heit mit einzumischen, die der Staat, vielleicht aus irrigem Gewissen geheiliget hat. Wenig- stens würde ich mich hüten, einen übrigens rechtschaffenen Lehrer dieserhalb der Heucheley, oder des Jesuitismus zu beschuldigen, wenn mir nicht die Umstände und die Verfassung des Mannes sehr genau bekannt sind; so ge- nau, als vielleicht die Verfassung eines Men- schen niemals seinem Nächsten bekannt seyn kann. Wer sich rühmt, nie in solchen Din- gen anders gesprochen, als gedacht zu haben, hat entweder überall nie gedacht, oder fin- det vielleicht für gut, in diesem Augenblicke selbst, mit einer Unwahrheit zu pralen, der sein Herz widerspricht.
Also
F 5
ten Beſoldung werden, oder was er ſonſt fuͤr ſeine unuͤberwindliche Wahrheitsliebe leiden ſoll.
Mich duͤnkt, keiner von dieſen Wegen ſey unter allen Umſtaͤnden ſchlechterdings zu ver- werfen. Ich kann mir eine Verfaſſung denken in welcher es vor dem Richterſtuhle des allge- rechten Richters zu entſchuldigen iſt, wenn man fortfaͤhrt, ſeinem ſonſt heilſamen Vor- trage gemeinnuͤtziger Wahrheiten, eine Unwahr- heit mit einzumiſchen, die der Staat, vielleicht aus irrigem Gewiſſen geheiliget hat. Wenig- ſtens wuͤrde ich mich huͤten, einen uͤbrigens rechtſchaffenen Lehrer dieſerhalb der Heucheley, oder des Jeſuitismus zu beſchuldigen, wenn mir nicht die Umſtaͤnde und die Verfaſſung des Mannes ſehr genau bekannt ſind; ſo ge- nau, als vielleicht die Verfaſſung eines Men- ſchen niemals ſeinem Naͤchſten bekannt ſeyn kann. Wer ſich ruͤhmt, nie in ſolchen Din- gen anders geſprochen, als gedacht zu haben, hat entweder uͤberall nie gedacht, oder fin- det vielleicht fuͤr gut, in dieſem Augenblicke ſelbſt, mit einer Unwahrheit zu pralen, der ſein Herz widerſpricht.
Alſo
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ten Beſoldung werden, oder was er ſonſt fuͤr
ſeine unuͤberwindliche Wahrheitsliebe leiden ſoll.
Mich duͤnkt, keiner von dieſen Wegen ſey
unter allen Umſtaͤnden ſchlechterdings zu ver-
werfen. Ich kann mir eine Verfaſſung denken
in welcher es vor dem Richterſtuhle des allge-
rechten Richters zu entſchuldigen iſt, wenn
man fortfaͤhrt, ſeinem ſonſt heilſamen Vor-
trage gemeinnuͤtziger Wahrheiten, eine Unwahr-
heit mit einzumiſchen, die der Staat, vielleicht
aus irrigem Gewiſſen geheiliget hat. Wenig-
ſtens wuͤrde ich mich huͤten, einen uͤbrigens
rechtſchaffenen Lehrer dieſerhalb der Heucheley,
oder des Jeſuitismus zu beſchuldigen, wenn
mir nicht die Umſtaͤnde und die Verfaſſung
des Mannes ſehr genau bekannt ſind; ſo ge-
nau, als vielleicht die Verfaſſung eines Men-
ſchen niemals ſeinem Naͤchſten bekannt ſeyn
kann. Wer ſich ruͤhmt, nie in ſolchen Din-
gen anders geſprochen, als gedacht zu haben,
hat entweder uͤberall nie gedacht, oder fin-
det vielleicht fuͤr gut, in dieſem Augenblicke
ſelbſt, mit einer Unwahrheit zu pralen, der ſein
Herz widerſpricht.
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/95>, abgerufen am 16.02.2025.
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