von gleicher Art: Welche Speise ist die gesun- deste? Jede Complexion, jedes Clima, jedes Alter, Geschlecht, Lebensart u. s. w. erfordert eine andere Antwort. Eben so verhält es sich mit unserm politischphilosophischen Problem. Für jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf welcher es stehet, ist eine andere Regierungsform die beste. Manche despotisch regierte Nationen würden höchst elend seyn, wenn man sie sich selbst überließe; so elend als manche freygesinnten Republikaner, wenn man sie einem Einzelherrn unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird, so wie sich Cultur, Lebensart und Gesinnung abändert, auch mit der Regierungsform ändern, und in einer Folge von Jahrhunderten den gan- zen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie bis zum Despotismus, durch alle Schattirun- gen und Vermischungen durchwandern, und doch immer die Form gewählt haben, die in solchen Umständen für sie die Beste war.
Unter allen Umständen und Bedingungen aber halte ich es für einen untrüglichen Maaßstab von der Güte der Regierungsform, je mehr in derselben durch Sitten und Gesinnungen ge- würkt, und also durch die Erziehungen selbst re-
giert
von gleicher Art: Welche Speiſe iſt die geſun- deſte? Jede Complexion, jedes Clima, jedes Alter, Geſchlecht, Lebensart u. ſ. w. erfordert eine andere Antwort. Eben ſo verhaͤlt es ſich mit unſerm politiſchphiloſophiſchen Problem. Fuͤr jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf welcher es ſtehet, iſt eine andere Regierungsform die beſte. Manche despotiſch regierte Nationen wuͤrden hoͤchſt elend ſeyn, wenn man ſie ſich ſelbſt uͤberließe; ſo elend als manche freygeſinnten Republikaner, wenn man ſie einem Einzelherrn unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird, ſo wie ſich Cultur, Lebensart und Geſinnung abaͤndert, auch mit der Regierungsform aͤndern, und in einer Folge von Jahrhunderten den gan- zen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie bis zum Despotismus, durch alle Schattirun- gen und Vermiſchungen durchwandern, und doch immer die Form gewaͤhlt haben, die in ſolchen Umſtaͤnden fuͤr ſie die Beſte war.
Unter allen Umſtaͤnden und Bedingungen aber halte ich es fuͤr einen untruͤglichen Maaßſtab von der Guͤte der Regierungsform, je mehr in derſelben durch Sitten und Geſinnungen ge- wuͤrkt, und alſo durch die Erziehungen ſelbſt re-
giert
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von gleicher Art: Welche Speiſe iſt die geſun-
deſte? Jede Complexion, jedes Clima, jedes
Alter, Geſchlecht, Lebensart u. ſ. w. erfordert
eine andere Antwort. Eben ſo verhaͤlt es ſich
mit unſerm politiſchphiloſophiſchen Problem.
Fuͤr jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf
welcher es ſtehet, iſt eine andere Regierungsform
die beſte. Manche despotiſch regierte Nationen
wuͤrden hoͤchſt elend ſeyn, wenn man ſie ſich ſelbſt
uͤberließe; ſo elend als manche freygeſinnten
Republikaner, wenn man ſie einem Einzelherrn
unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird,
ſo wie ſich Cultur, Lebensart und Geſinnung
abaͤndert, auch mit der Regierungsform aͤndern,
und in einer Folge von Jahrhunderten den gan-
zen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie
bis zum Despotismus, durch alle Schattirun-
gen und Vermiſchungen durchwandern, und doch
immer die Form gewaͤhlt haben, die in ſolchen
Umſtaͤnden fuͤr ſie die Beſte war.
Unter allen Umſtaͤnden und Bedingungen aber
halte ich es fuͤr einen untruͤglichen Maaßſtab
von der Guͤte der Regierungsform, je mehr in
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/28>, abgerufen am 16.07.2024.
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