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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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standen. Schon zu den Zeiten des Propheten
Samuel gewann das Gebäude einen Riß, der
sich immer weiter aufthat, bis die Theile völlig
zerfielen. Die Nation verlangte einen sichtba-
ren, fleischlichen König zum Regenten. Es sey
nun, daß die Priesterschaft, wie von den Söh-
nen des Hohenpriesters in der Schrift erzählt
wird, schon angefangen ihr Ansehen bey dem
Volke zu mißbrauchen, oder daß der Glanz einer
benachbarten Hofhaltung die Augen geblen-
det; genug, sie forderten einen König, wie
alle andere Völker haben. Der Prophet,
den dieses kränkte, stellte ihnen vor, was ein
menschlicher König sey, der seine eigne Bedürf-
nisse hat, und sie nach Wohlgefallen erweitern
kann, und wie schwer ein schwacher Sterblicher
zu befriedigen sey, den man das Recht der
Gottheit einräumet. Umsonst, das Volk be-
stand auf seinen Vorsatz, erhielt seinen Wunsch,
und erfuhr, was ihnen der Prophet angedrohet
hatte. Nun war die Verfassung untergraben;
die Einheit des Interesse aufgehoben; Staat
und Religion nicht mehr eben dasselbe, und Col-
lision der Pflichten war schon nicht mehr unmög-

lich.

ſtanden. Schon zu den Zeiten des Propheten
Samuel gewann das Gebaͤude einen Riß, der
ſich immer weiter aufthat, bis die Theile voͤllig
zerfielen. Die Nation verlangte einen ſichtba-
ren, fleiſchlichen Koͤnig zum Regenten. Es ſey
nun, daß die Prieſterſchaft, wie von den Soͤh-
nen des Hohenprieſters in der Schrift erzaͤhlt
wird, ſchon angefangen ihr Anſehen bey dem
Volke zu mißbrauchen, oder daß der Glanz einer
benachbarten Hofhaltung die Augen geblen-
det; genug, ſie forderten einen Koͤnig, wie
alle andere Voͤlker haben. Der Prophet,
den dieſes kraͤnkte, ſtellte ihnen vor, was ein
menſchlicher Koͤnig ſey, der ſeine eigne Beduͤrf-
niſſe hat, und ſie nach Wohlgefallen erweitern
kann, und wie ſchwer ein ſchwacher Sterblicher
zu befriedigen ſey, den man das Recht der
Gottheit einraͤumet. Umſonſt, das Volk be-
ſtand auf ſeinen Vorſatz, erhielt ſeinen Wunſch,
und erfuhr, was ihnen der Prophet angedrohet
hatte. Nun war die Verfaſſung untergraben;
die Einheit des Intereſſe aufgehoben; Staat
und Religion nicht mehr eben daſſelbe, und Col-
liſion der Pflichten war ſchon nicht mehr unmoͤg-

lich.
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[125/0227] ſtanden. Schon zu den Zeiten des Propheten Samuel gewann das Gebaͤude einen Riß, der ſich immer weiter aufthat, bis die Theile voͤllig zerfielen. Die Nation verlangte einen ſichtba- ren, fleiſchlichen Koͤnig zum Regenten. Es ſey nun, daß die Prieſterſchaft, wie von den Soͤh- nen des Hohenprieſters in der Schrift erzaͤhlt wird, ſchon angefangen ihr Anſehen bey dem Volke zu mißbrauchen, oder daß der Glanz einer benachbarten Hofhaltung die Augen geblen- det; genug, ſie forderten einen Koͤnig, wie alle andere Voͤlker haben. Der Prophet, den dieſes kraͤnkte, ſtellte ihnen vor, was ein menſchlicher Koͤnig ſey, der ſeine eigne Beduͤrf- niſſe hat, und ſie nach Wohlgefallen erweitern kann, und wie ſchwer ein ſchwacher Sterblicher zu befriedigen ſey, den man das Recht der Gottheit einraͤumet. Umſonſt, das Volk be- ſtand auf ſeinen Vorſatz, erhielt ſeinen Wunſch, und erfuhr, was ihnen der Prophet angedrohet hatte. Nun war die Verfaſſung untergraben; die Einheit des Intereſſe aufgehoben; Staat und Religion nicht mehr eben daſſelbe, und Col- liſion der Pflichten war ſchon nicht mehr unmoͤg- lich.

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/227>, abgerufen am 24.11.2024.