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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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für meine Hypothese, daß das Bedürfniß der
Schriftzeichen die erste Veranlassung zur Abgöt-
terey gewesen.

Bey Beurtheilung der Religionsbegriffe ei-
ner sonst noch unbekannten Nation muß man
sich, aus eben der Ursache, hüten, nicht alles
mit eigenen heimischen Augen zu sehen, um
nicht Götzendienst zu nennen, was im Grunde
vielleicht nur Schrift ist. Man stelle sich vor,
ein zweiter Omhya, der von dem Geheimniß der
Schreibekunst nichts wüßte, würde plötzlich, oh-
ne sich nach und nach an unsere Ideen zu gewöh-
nen, aus seinem Welttheile in irgend einen der bil-
derfreyesten Tempel von Europa -- um das Bey-
spiel auffallender zu machen -- in den Tempel
der Providenz
versetzt. Er fände alles leer von
Bildern und Verzierung; nur dort auf der wei-
ßen Wand einige schwarze Züge *) die vielleicht
das ohngefähr dahin gestrichen, Doch nein!
die ganze Gemeine schauet auf diese Züge mit
Ehrfurcht, faltet die Hände zu ihnen, richtet

zu
*) Die Worte: Gott, allweise, allmächtig, all-
gütig, belohnt das Gute.

fuͤr meine Hypotheſe, daß das Beduͤrfniß der
Schriftzeichen die erſte Veranlaſſung zur Abgoͤt-
terey geweſen.

Bey Beurtheilung der Religionsbegriffe ei-
ner ſonſt noch unbekannten Nation muß man
ſich, aus eben der Urſache, huͤten, nicht alles
mit eigenen heimiſchen Augen zu ſehen, um
nicht Goͤtzendienſt zu nennen, was im Grunde
vielleicht nur Schrift iſt. Man ſtelle ſich vor,
ein zweiter Omhya, der von dem Geheimniß der
Schreibekunſt nichts wuͤßte, wuͤrde ploͤtzlich, oh-
ne ſich nach und nach an unſere Ideen zu gewoͤh-
nen, aus ſeinem Welttheile in irgend einen der bil-
derfreyeſten Tempel von Europa — um das Bey-
ſpiel auffallender zu machen — in den Tempel
der Providenz
verſetzt. Er faͤnde alles leer von
Bildern und Verzierung; nur dort auf der wei-
ßen Wand einige ſchwarze Zuͤge *) die vielleicht
das ohngefaͤhr dahin geſtrichen, Doch nein!
die ganze Gemeine ſchauet auf dieſe Zuͤge mit
Ehrfurcht, faltet die Haͤnde zu ihnen, richtet

zu
*) Die Worte: Gott, allweiſe, allmächtig, all-
gütig, belohnt das Gute.
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[84/0186] fuͤr meine Hypotheſe, daß das Beduͤrfniß der Schriftzeichen die erſte Veranlaſſung zur Abgoͤt- terey geweſen. Bey Beurtheilung der Religionsbegriffe ei- ner ſonſt noch unbekannten Nation muß man ſich, aus eben der Urſache, huͤten, nicht alles mit eigenen heimiſchen Augen zu ſehen, um nicht Goͤtzendienſt zu nennen, was im Grunde vielleicht nur Schrift iſt. Man ſtelle ſich vor, ein zweiter Omhya, der von dem Geheimniß der Schreibekunſt nichts wuͤßte, wuͤrde ploͤtzlich, oh- ne ſich nach und nach an unſere Ideen zu gewoͤh- nen, aus ſeinem Welttheile in irgend einen der bil- derfreyeſten Tempel von Europa — um das Bey- ſpiel auffallender zu machen — in den Tempel der Providenz verſetzt. Er faͤnde alles leer von Bildern und Verzierung; nur dort auf der wei- ßen Wand einige ſchwarze Zuͤge *) die vielleicht das ohngefaͤhr dahin geſtrichen, Doch nein! die ganze Gemeine ſchauet auf dieſe Zuͤge mit Ehrfurcht, faltet die Haͤnde zu ihnen, richtet zu *) Die Worte: Gott, allweiſe, allmächtig, all- gütig, belohnt das Gute.

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/186>, abgerufen am 22.11.2024.