Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Betrachtungen in astronomischen, ökonomischen,
moralischen und religiosen Dingen wurden ver-
vielfältiget, ausgebreitet, erleichtert und den
Nachkommen aufbehalten. Sie sind die Zellen,
in welche die Bienen ihren Honig sammlen, und
zum Genusse für sich und andere aufbewah-
ren. -- Allein, wie es in menschlichen Dingen
allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet,
suchet die Thorheit dort schon wieder einzureis-
sen, und mehrentheils bedient sie sich derselben
Mittel und Werkzeuge. Mißverstand von der
einen, und Mißbrauch von der andern Seite
verwandelten das, was Verbesserung des mensch-
lichen Zustandes seyn sollte, in Verderben und
Verschlimmerung. Was Einfalt und Unwissen-
heit war, ward nunmehr Verführung und Irr-
tum. Von der einen Seite Mißverstand: der
große Haufe war von den Begriffen, die mit
diesen sinnlichen Zeichen verbunden seyn sollten,
gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie sahen
die Zeichen nicht als blosse Zeichen an; sondern
hielten sie für die Dinge selbst. So lange man
sich noch der Dinge selbst, oder ihrer Bildnisse
und Umrisse statt der Zeichen bediente, war die-

ser

Betrachtungen in aſtronomiſchen, oͤkonomiſchen,
moraliſchen und religioſen Dingen wurden ver-
vielfaͤltiget, ausgebreitet, erleichtert und den
Nachkommen aufbehalten. Sie ſind die Zellen,
in welche die Bienen ihren Honig ſammlen, und
zum Genuſſe fuͤr ſich und andere aufbewah-
ren. — Allein, wie es in menſchlichen Dingen
allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet,
ſuchet die Thorheit dort ſchon wieder einzureiſ-
ſen, und mehrentheils bedient ſie ſich derſelben
Mittel und Werkzeuge. Mißverſtand von der
einen, und Mißbrauch von der andern Seite
verwandelten das, was Verbeſſerung des menſch-
lichen Zuſtandes ſeyn ſollte, in Verderben und
Verſchlimmerung. Was Einfalt und Unwiſſen-
heit war, ward nunmehr Verfuͤhrung und Irr-
tum. Von der einen Seite Mißverſtand: der
große Haufe war von den Begriffen, die mit
dieſen ſinnlichen Zeichen verbunden ſeyn ſollten,
gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie ſahen
die Zeichen nicht als bloſſe Zeichen an; ſondern
hielten ſie fuͤr die Dinge ſelbſt. So lange man
ſich noch der Dinge ſelbſt, oder ihrer Bildniſſe
und Umriſſe ſtatt der Zeichen bediente, war die-

ſer
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="77"/>
Betrachtungen in a&#x017F;tronomi&#x017F;chen, o&#x0364;konomi&#x017F;chen,<lb/>
morali&#x017F;chen und religio&#x017F;en Dingen wurden ver-<lb/>
vielfa&#x0364;ltiget, ausgebreitet, erleichtert und den<lb/>
Nachkommen aufbehalten. Sie &#x017F;ind die Zellen,<lb/>
in welche die Bienen ihren Honig &#x017F;ammlen, und<lb/>
zum Genu&#x017F;&#x017F;e fu&#x0364;r &#x017F;ich und andere aufbewah-<lb/>
ren. &#x2014; Allein, wie es in men&#x017F;chlichen Dingen<lb/>
allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet,<lb/>
&#x017F;uchet die Thorheit dort &#x017F;chon wieder einzurei&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, und mehrentheils bedient &#x017F;ie &#x017F;ich der&#x017F;elben<lb/>
Mittel und Werkzeuge. Mißver&#x017F;tand von der<lb/>
einen, und Mißbrauch von der andern Seite<lb/>
verwandelten das, was Verbe&#x017F;&#x017F;erung des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Zu&#x017F;tandes &#x017F;eyn &#x017F;ollte, in Verderben und<lb/>
Ver&#x017F;chlimmerung. Was Einfalt und Unwi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
heit war, ward nunmehr Verfu&#x0364;hrung und Irr-<lb/>
tum. Von der einen Seite Mißver&#x017F;tand: der<lb/>
große Haufe war von den Begriffen, die mit<lb/>
die&#x017F;en &#x017F;innlichen Zeichen verbunden &#x017F;eyn &#x017F;ollten,<lb/>
gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie &#x017F;ahen<lb/>
die Zeichen nicht als blo&#x017F;&#x017F;e Zeichen an; &#x017F;ondern<lb/>
hielten &#x017F;ie fu&#x0364;r die Dinge &#x017F;elb&#x017F;t. So lange man<lb/>
&#x017F;ich noch der Dinge &#x017F;elb&#x017F;t, oder ihrer Bildni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
und Umri&#x017F;&#x017F;e &#x017F;tatt der Zeichen bediente, war die-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;er</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0179] Betrachtungen in aſtronomiſchen, oͤkonomiſchen, moraliſchen und religioſen Dingen wurden ver- vielfaͤltiget, ausgebreitet, erleichtert und den Nachkommen aufbehalten. Sie ſind die Zellen, in welche die Bienen ihren Honig ſammlen, und zum Genuſſe fuͤr ſich und andere aufbewah- ren. — Allein, wie es in menſchlichen Dingen allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet, ſuchet die Thorheit dort ſchon wieder einzureiſ- ſen, und mehrentheils bedient ſie ſich derſelben Mittel und Werkzeuge. Mißverſtand von der einen, und Mißbrauch von der andern Seite verwandelten das, was Verbeſſerung des menſch- lichen Zuſtandes ſeyn ſollte, in Verderben und Verſchlimmerung. Was Einfalt und Unwiſſen- heit war, ward nunmehr Verfuͤhrung und Irr- tum. Von der einen Seite Mißverſtand: der große Haufe war von den Begriffen, die mit dieſen ſinnlichen Zeichen verbunden ſeyn ſollten, gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie ſahen die Zeichen nicht als bloſſe Zeichen an; ſondern hielten ſie fuͤr die Dinge ſelbſt. So lange man ſich noch der Dinge ſelbſt, oder ihrer Bildniſſe und Umriſſe ſtatt der Zeichen bediente, war die- ſer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/179
Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/179>, abgerufen am 25.11.2024.