"ner Grundsteine das ganze Gebäude erschüttern, "wenn Sie das durch Mosen gegebene, auf gött- "liche Offenbarung sich berufende Kirchenrecht "bestreiten?"
Dieser Einwurf dringet an das Herz. Ich muß gestehen, daß die Begriffe, die hier vom Ju- dentume gegeben werden, bis auf einige Unbe- hutsamkeit im Ausdrucke, selbst von vielen mei- ner Religionsbrüder dafür angenommen werden. Wäre nun dem in Wahrheit also, und ich davon überführet, so würde ich allerdings meine Sätze mit Beschämung zurücknehmen, und die Ver- nunft unter dem Joche des Glaubens -- doch nein! was sollte ich heucheln? Autorität kann demüthigen, aber nicht belehren; sie kann die Vernunft niederschlagen, aber nicht fesseln. Stünde das Wort Gottes mit meiner Ver- nunft in einem so offenbaren Widerspruche, so würde ich der letztern höchstens Stillschweigen gebieten können; aber meine nicht widerlegten Gründe würden im geheimsten Winkel meines Herzens nichts destoweniger wiederkehren, sich in beunruhigende Zweifel verwandeln, und die Zweifel sich in kindliche Gebere, in inbrünstiges
Flehen
„ner Grundſteine das ganze Gebaͤude erſchuͤttern, „wenn Sie das durch Moſen gegebene, auf goͤtt- „liche Offenbarung ſich berufende Kirchenrecht „beſtreiten?“
Dieſer Einwurf dringet an das Herz. Ich muß geſtehen, daß die Begriffe, die hier vom Ju- dentume gegeben werden, bis auf einige Unbe- hutſamkeit im Ausdrucke, ſelbſt von vielen mei- ner Religionsbruͤder dafuͤr angenommen werden. Waͤre nun dem in Wahrheit alſo, und ich davon uͤberfuͤhret, ſo wuͤrde ich allerdings meine Saͤtze mit Beſchaͤmung zuruͤcknehmen, und die Ver- nunft unter dem Joche des Glaubens — doch nein! was ſollte ich heucheln? Autoritaͤt kann demuͤthigen, aber nicht belehren; ſie kann die Vernunft niederſchlagen, aber nicht feſſeln. Stuͤnde das Wort Gottes mit meiner Ver- nunft in einem ſo offenbaren Widerſpruche, ſo wuͤrde ich der letztern hoͤchſtens Stillſchweigen gebieten koͤnnen; aber meine nicht widerlegten Gruͤnde wuͤrden im geheimſten Winkel meines Herzens nichts deſtoweniger wiederkehren, ſich in beunruhigende Zweifel verwandeln, und die Zweifel ſich in kindliche Gebere, in inbruͤnſtiges
Flehen
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„ner Grundſteine das ganze Gebaͤude erſchuͤttern,
„wenn Sie das durch Moſen gegebene, auf goͤtt-
„liche Offenbarung ſich berufende Kirchenrecht
„beſtreiten?“
Dieſer Einwurf dringet an das Herz. Ich
muß geſtehen, daß die Begriffe, die hier vom Ju-
dentume gegeben werden, bis auf einige Unbe-
hutſamkeit im Ausdrucke, ſelbſt von vielen mei-
ner Religionsbruͤder dafuͤr angenommen werden.
Waͤre nun dem in Wahrheit alſo, und ich davon
uͤberfuͤhret, ſo wuͤrde ich allerdings meine Saͤtze
mit Beſchaͤmung zuruͤcknehmen, und die Ver-
nunft unter dem Joche des Glaubens — doch
nein! was ſollte ich heucheln? Autoritaͤt kann
demuͤthigen, aber nicht belehren; ſie kann die
Vernunft niederſchlagen, aber nicht feſſeln.
Stuͤnde das Wort Gottes mit meiner Ver-
nunft in einem ſo offenbaren Widerſpruche, ſo
wuͤrde ich der letztern hoͤchſtens Stillſchweigen
gebieten koͤnnen; aber meine nicht widerlegten
Gruͤnde wuͤrden im geheimſten Winkel meines
Herzens nichts deſtoweniger wiederkehren, ſich in
beunruhigende Zweifel verwandeln, und die
Zweifel ſich in kindliche Gebere, in inbruͤnſtiges
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/124>, abgerufen am 18.07.2024.
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