Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

warum [e]s nicht eben so gut erlaubt sey, einen
Menschen zu ermorden, als ein Thier, um sei-
nes Vortheils willen, umzubringen. Diesem
Unmenschen konnte der Richter mit Recht ant-
worten: "du leugnest die Grundsätze, Bursche!
"mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirst
"wenigstens einsehen, daß es auch uns erlaubt
"sey, um unseres Vortheils willen, die Erde
"von einem solchen Ungeheuer zu befreyen." So
aber durfte ihm der Priester schon nicht antworten,
der ihn zum Tode vorbereiten sollte. Dieser war
verbunden sich mit ihm über die Grundsätze selbst
einzulassen, und ihm, wenn sein Zweifel ihm ein
Ernst war, solchen zu benehmen. Nicht anders
verhält es sich in Künsten und Wissenschaften.
Jede derselben setzet gewisse Grundbegriffe vor-
aus, von denen sie weiter keine Rechenschaft
giebt. Deswegen aber ist in dem ganzen Inbe-
griff der menschlichen Erkenntnisse kein Punkt
über allen Anspruch hinweg zu setzen, kein Titel,
der nicht zur Untersuchung gezogen werden darf.
Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieses
Gerichtshofes; so muß ich vor einen andern ver-
wiesen werden. Irgendwo muß ich gehört, und
zu rechte gewiesen werden.

Der

warum [e]s nicht eben ſo gut erlaubt ſey, einen
Menſchen zu ermorden, als ein Thier, um ſei-
nes Vortheils willen, umzubringen. Dieſem
Unmenſchen konnte der Richter mit Recht ant-
worten: „du leugneſt die Grundſaͤtze, Burſche!
„mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirſt
„wenigſtens einſehen, daß es auch uns erlaubt
„ſey, um unſeres Vortheils willen, die Erde
„von einem ſolchen Ungeheuer zu befreyen.“ So
aber durfte ihm der Prieſter ſchon nicht antworten,
der ihn zum Tode vorbereiten ſollte. Dieſer war
verbunden ſich mit ihm uͤber die Grundſaͤtze ſelbſt
einzulaſſen, und ihm, wenn ſein Zweifel ihm ein
Ernſt war, ſolchen zu benehmen. Nicht anders
verhaͤlt es ſich in Kuͤnſten und Wiſſenſchaften.
Jede derſelben ſetzet gewiſſe Grundbegriffe vor-
aus, von denen ſie weiter keine Rechenſchaft
giebt. Deswegen aber iſt in dem ganzen Inbe-
griff der menſchlichen Erkenntniſſe kein Punkt
uͤber allen Anſpruch hinweg zu ſetzen, kein Titel,
der nicht zur Unterſuchung gezogen werden darf.
Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieſes
Gerichtshofes; ſo muß ich vor einen andern ver-
wieſen werden. Irgendwo muß ich gehoͤrt, und
zu rechte gewieſen werden.

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0115" n="13"/>
warum <supplied>e</supplied>s nicht eben &#x017F;o gut erlaubt &#x017F;ey, einen<lb/>
Men&#x017F;chen zu ermorden, als ein Thier, um &#x017F;ei-<lb/>
nes Vortheils willen, umzubringen. Die&#x017F;em<lb/>
Unmen&#x017F;chen konnte der Richter mit Recht ant-<lb/>
worten: &#x201E;du leugne&#x017F;t die Grund&#x017F;a&#x0364;tze, Bur&#x017F;che!<lb/>
&#x201E;mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wir&#x017F;t<lb/>
&#x201E;wenig&#x017F;tens ein&#x017F;ehen, daß es auch uns erlaubt<lb/>
&#x201E;&#x017F;ey, um un&#x017F;eres Vortheils willen, die Erde<lb/>
&#x201E;von einem &#x017F;olchen Ungeheuer zu befreyen.&#x201C; So<lb/>
aber durfte ihm der Prie&#x017F;ter &#x017F;chon nicht antworten,<lb/>
der ihn zum Tode vorbereiten &#x017F;ollte. Die&#x017F;er war<lb/>
verbunden &#x017F;ich mit ihm u&#x0364;ber die Grund&#x017F;a&#x0364;tze &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
einzula&#x017F;&#x017F;en, und ihm, wenn &#x017F;ein Zweifel ihm ein<lb/>
Ern&#x017F;t war, &#x017F;olchen zu benehmen. Nicht anders<lb/>
verha&#x0364;lt es &#x017F;ich in Ku&#x0364;n&#x017F;ten und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften.<lb/>
Jede der&#x017F;elben &#x017F;etzet gewi&#x017F;&#x017F;e Grundbegriffe vor-<lb/>
aus, von denen &#x017F;ie weiter keine Rechen&#x017F;chaft<lb/>
giebt. Deswegen aber i&#x017F;t in dem ganzen Inbe-<lb/>
griff der men&#x017F;chlichen Erkenntni&#x017F;&#x017F;e kein Punkt<lb/>
u&#x0364;ber allen An&#x017F;pruch hinweg zu &#x017F;etzen, kein Titel,<lb/>
der nicht zur Unter&#x017F;uchung gezogen werden darf.<lb/>
Liegt mein Zweifel außer den Schranken <hi rendition="#fr">die&#x017F;es</hi><lb/>
Gerichtshofes; &#x017F;o muß ich vor einen andern ver-<lb/>
wie&#x017F;en werden. Irgendwo muß ich geho&#x0364;rt, und<lb/>
zu rechte gewie&#x017F;en werden.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0115] warum es nicht eben ſo gut erlaubt ſey, einen Menſchen zu ermorden, als ein Thier, um ſei- nes Vortheils willen, umzubringen. Dieſem Unmenſchen konnte der Richter mit Recht ant- worten: „du leugneſt die Grundſaͤtze, Burſche! „mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirſt „wenigſtens einſehen, daß es auch uns erlaubt „ſey, um unſeres Vortheils willen, die Erde „von einem ſolchen Ungeheuer zu befreyen.“ So aber durfte ihm der Prieſter ſchon nicht antworten, der ihn zum Tode vorbereiten ſollte. Dieſer war verbunden ſich mit ihm uͤber die Grundſaͤtze ſelbſt einzulaſſen, und ihm, wenn ſein Zweifel ihm ein Ernſt war, ſolchen zu benehmen. Nicht anders verhaͤlt es ſich in Kuͤnſten und Wiſſenſchaften. Jede derſelben ſetzet gewiſſe Grundbegriffe vor- aus, von denen ſie weiter keine Rechenſchaft giebt. Deswegen aber iſt in dem ganzen Inbe- griff der menſchlichen Erkenntniſſe kein Punkt uͤber allen Anſpruch hinweg zu ſetzen, kein Titel, der nicht zur Unterſuchung gezogen werden darf. Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieſes Gerichtshofes; ſo muß ich vor einen andern ver- wieſen werden. Irgendwo muß ich gehoͤrt, und zu rechte gewieſen werden. Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/115
Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/115>, abgerufen am 24.11.2024.