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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

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"Ehrwürdiger Herr, sehn Sie mich genauer
an! Vielleicht erinnert Sie doch noch irgend
ein Zug an jenen Unglücklichen, der ohne Jhren
Beistand längst eine Speise der Raben gewor-
den wäre; -- den Jhre fast übermenschliche
Güte rettete, und der jezt -- ach, Sie noch
wieder zu sehn, Jhnen noch danken zu können,
für ein Glück erkennt, das er schon zahllos
wünschte, ohne je hoffen zu dürfen.

Das Erstaunen des Paters fand eine lange
Weile durchaus keine Worte. Doch ruhte er
nicht, bis Mann und Frau wieder aufstanden,
und forschte dann weiter. Die Erzälung sei-
nes Wirths war, wenn nicht wörtlich, doch
inhaltsweise, also:

"Ganz unbemerkt sei er damals, nach ge-
wagtem Sprunge, entflohen. Noch diesen Tag
hab' ihn die Todesfurcht, ohne Speiß und
Trank, sieben Meilen weit fortgetrieben. Mit
Almosen suchen hab' er sich dann immer wei-
ter und weiter durchgebracht. Oft sei es ihm
trübselig genug gegangen, doch hab' er fest

„Ehrwuͤrdiger Herr, ſehn Sie mich genauer
an! Vielleicht erinnert Sie doch noch irgend
ein Zug an jenen Ungluͤcklichen, der ohne Jhren
Beiſtand laͤngſt eine Speiſe der Raben gewor-
den waͤre; — den Jhre faſt uͤbermenſchliche
Guͤte rettete, und der jezt — ach, Sie noch
wieder zu ſehn, Jhnen noch danken zu koͤnnen,
fuͤr ein Gluͤck erkennt, das er ſchon zahllos
wuͤnſchte, ohne je hoffen zu duͤrfen.

Das Erſtaunen des Paters fand eine lange
Weile durchaus keine Worte. Doch ruhte er
nicht, bis Mann und Frau wieder aufſtanden,
und forſchte dann weiter. Die Erzaͤlung ſei-
nes Wirths war, wenn nicht woͤrtlich, doch
inhaltsweiſe, alſo:

„Ganz unbemerkt ſei er damals, nach ge-
wagtem Sprunge, entflohen. Noch dieſen Tag
hab' ihn die Todesfurcht, ohne Speiß und
Trank, ſieben Meilen weit fortgetrieben. Mit
Almoſen ſuchen hab' er ſich dann immer wei-
ter und weiter durchgebracht. Oft ſei es ihm
truͤbſelig genug gegangen, doch hab' er feſt

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[440/0448] „Ehrwuͤrdiger Herr, ſehn Sie mich genauer an! Vielleicht erinnert Sie doch noch irgend ein Zug an jenen Ungluͤcklichen, der ohne Jhren Beiſtand laͤngſt eine Speiſe der Raben gewor- den waͤre; — den Jhre faſt uͤbermenſchliche Guͤte rettete, und der jezt — ach, Sie noch wieder zu ſehn, Jhnen noch danken zu koͤnnen, fuͤr ein Gluͤck erkennt, das er ſchon zahllos wuͤnſchte, ohne je hoffen zu duͤrfen. Das Erſtaunen des Paters fand eine lange Weile durchaus keine Worte. Doch ruhte er nicht, bis Mann und Frau wieder aufſtanden, und forſchte dann weiter. Die Erzaͤlung ſei- nes Wirths war, wenn nicht woͤrtlich, doch inhaltsweiſe, alſo: „Ganz unbemerkt ſei er damals, nach ge- wagtem Sprunge, entflohen. Noch dieſen Tag hab' ihn die Todesfurcht, ohne Speiß und Trank, ſieben Meilen weit fortgetrieben. Mit Almoſen ſuchen hab' er ſich dann immer wei- ter und weiter durchgebracht. Oft ſei es ihm truͤbſelig genug gegangen, doch hab' er feſt

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Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/448>, abgerufen am 24.11.2024.