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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

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alles todt; die Fenster des Zimmers gingen
im Garten; den Garten umgab eine kleine,
leicht übersteigbare Mauer; die Mauer lag an
der Landstraße. Er selbst war ohne Geld,
ohne Hofnung. Wenn er dieser Uhr sich be-
mächtigte; sich damit entfernte; sie im näch-
sten Städtchen verkauft' oder versezte -- würd'
er dann nicht reichlichere Wegzehrung haben?
Wer würde wohl hier ihn kennen? Wer ihm
nachsezzen? -- O es war unbeschreiblich, wie
nüzlich und wie leicht ein solcher Schritt ihm
dünkte!

Doch wider die Einwendungen seines Ge-
wissens! Dieser Fremde hatte so liebreich ihn
aufgenommen, so gütig ihn bewirthet; ihm
ganz allein sein Zimmer anvertraut, selbst die-
se Uhr nicht weggenommen. Welche Mensch-
lichkeit und welch' eine Zuversicht! Es war
nicht Diebstahl allein, es war Verlezzung der
Gastfreiheit, es war der strafbarste Undank,
wenn er sie raubte! -- Freilich blos ein
Schritt der Bedrängniß, aber doch in den Augen

alles todt; die Fenſter des Zimmers gingen
im Garten; den Garten umgab eine kleine,
leicht uͤberſteigbare Mauer; die Mauer lag an
der Landſtraße. Er ſelbſt war ohne Geld,
ohne Hofnung. Wenn er dieſer Uhr ſich be-
maͤchtigte; ſich damit entfernte; ſie im naͤch-
ſten Staͤdtchen verkauft' oder verſezte — wuͤrd'
er dann nicht reichlichere Wegzehrung haben?
Wer wuͤrde wohl hier ihn kennen? Wer ihm
nachſezzen? — O es war unbeſchreiblich, wie
nuͤzlich und wie leicht ein ſolcher Schritt ihm
duͤnkte!

Doch wider die Einwendungen ſeines Ge-
wiſſens! Dieſer Fremde hatte ſo liebreich ihn
aufgenommen, ſo guͤtig ihn bewirthet; ihm
ganz allein ſein Zimmer anvertraut, ſelbſt die-
ſe Uhr nicht weggenommen. Welche Menſch-
lichkeit und welch' eine Zuverſicht! Es war
nicht Diebſtahl allein, es war Verlezzung der
Gaſtfreiheit, es war der ſtrafbarſte Undank,
wenn er ſie raubte! — Freilich blos ein
Schritt der Bedraͤngniß, aber doch in den Augen

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[414/0422] alles todt; die Fenſter des Zimmers gingen im Garten; den Garten umgab eine kleine, leicht uͤberſteigbare Mauer; die Mauer lag an der Landſtraße. Er ſelbſt war ohne Geld, ohne Hofnung. Wenn er dieſer Uhr ſich be- maͤchtigte; ſich damit entfernte; ſie im naͤch- ſten Staͤdtchen verkauft' oder verſezte — wuͤrd' er dann nicht reichlichere Wegzehrung haben? Wer wuͤrde wohl hier ihn kennen? Wer ihm nachſezzen? — O es war unbeſchreiblich, wie nuͤzlich und wie leicht ein ſolcher Schritt ihm duͤnkte! Doch wider die Einwendungen ſeines Ge- wiſſens! Dieſer Fremde hatte ſo liebreich ihn aufgenommen, ſo guͤtig ihn bewirthet; ihm ganz allein ſein Zimmer anvertraut, ſelbſt die- ſe Uhr nicht weggenommen. Welche Menſch- lichkeit und welch' eine Zuverſicht! Es war nicht Diebſtahl allein, es war Verlezzung der Gaſtfreiheit, es war der ſtrafbarſte Undank, wenn er ſie raubte! — Freilich blos ein Schritt der Bedraͤngniß, aber doch in den Augen

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Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/422>, abgerufen am 24.11.2024.