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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

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Jahre noch nicht jede Empfindung des Ge-
schlechts und der Liebe in ihrem Herzen erstickt
haben. Der Jüngling, gleichsam unter ihren
Augen herangewachsen, und zum Manne aus-
gebildet, hatte längst in ihr einen Wunsch
erregt, der für ihr Alter ungezweifelt eine
Thorheit war; den sie aber doch, als sie auch
nach dem Tode des ältern R. ihre Besuche
fortsezte, und die häusliche Verlegenheit des
Sohnes zu muthmaßen begann, in Hofnung
und zulezt in Absicht übergehen ließ. Schon
ein paarmal hatte sie sich ihm zu helfen erbo-
ten, wenn sie sicher wüßte, daß er -- dank-
bar
sei. Er verstand sie bald; schauderte im
Geheim ein wenig, und -- entschlos sich. Als
sie einst ihm wieder rieth, sich bey seinen vielen
Geschäften nach einer ehlichen Gehülfin um-
zuthun; als sie mit bedeutendem Tone hinzu-
fügte: daß sie aber an seiner Stelle mehr auf
eine vermögliche vernünftige Hausfrau, als
auf alzujunge, unerfahrne Dirnen sehen wür-
de, brachte er seine Worte bei ihr an. Sie

R

Jahre noch nicht jede Empfindung des Ge-
ſchlechts und der Liebe in ihrem Herzen erſtickt
haben. Der Juͤngling, gleichſam unter ihren
Augen herangewachſen, und zum Manne aus-
gebildet, hatte laͤngſt in ihr einen Wunſch
erregt, der fuͤr ihr Alter ungezweifelt eine
Thorheit war; den ſie aber doch, als ſie auch
nach dem Tode des aͤltern R. ihre Beſuche
fortſezte, und die haͤusliche Verlegenheit des
Sohnes zu muthmaßen begann, in Hofnung
und zulezt in Abſicht uͤbergehen ließ. Schon
ein paarmal hatte ſie ſich ihm zu helfen erbo-
ten, wenn ſie ſicher wuͤßte, daß er — dank-
bar
ſei. Er verſtand ſie bald; ſchauderte im
Geheim ein wenig, und — entſchlos ſich. Als
ſie einſt ihm wieder rieth, ſich bey ſeinen vielen
Geſchaͤften nach einer ehlichen Gehuͤlfin um-
zuthun; als ſie mit bedeutendem Tone hinzu-
fuͤgte: daß ſie aber an ſeiner Stelle mehr auf
eine vermoͤgliche vernuͤnftige Hausfrau, als
auf alzujunge, unerfahrne Dirnen ſehen wuͤr-
de, brachte er ſeine Worte bei ihr an. Sie

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[257/0265] Jahre noch nicht jede Empfindung des Ge- ſchlechts und der Liebe in ihrem Herzen erſtickt haben. Der Juͤngling, gleichſam unter ihren Augen herangewachſen, und zum Manne aus- gebildet, hatte laͤngſt in ihr einen Wunſch erregt, der fuͤr ihr Alter ungezweifelt eine Thorheit war; den ſie aber doch, als ſie auch nach dem Tode des aͤltern R. ihre Beſuche fortſezte, und die haͤusliche Verlegenheit des Sohnes zu muthmaßen begann, in Hofnung und zulezt in Abſicht uͤbergehen ließ. Schon ein paarmal hatte ſie ſich ihm zu helfen erbo- ten, wenn ſie ſicher wuͤßte, daß er — dank- bar ſei. Er verſtand ſie bald; ſchauderte im Geheim ein wenig, und — entſchlos ſich. Als ſie einſt ihm wieder rieth, ſich bey ſeinen vielen Geſchaͤften nach einer ehlichen Gehuͤlfin um- zuthun; als ſie mit bedeutendem Tone hinzu- fuͤgte: daß ſie aber an ſeiner Stelle mehr auf eine vermoͤgliche vernuͤnftige Hausfrau, als auf alzujunge, unerfahrne Dirnen ſehen wuͤr- de, brachte er ſeine Worte bei ihr an. Sie R

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Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/265>, abgerufen am 23.11.2024.