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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

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"läßt?" und ging des andern Morgens mit
der Miene der frömmsten Ergebenheit, nebst
mehrern seiner Mitbauern zur Kirche, sprach
noch unterwegens in den erbaulichsten Aus-
drücken von der gestrigen Rache des Himmels;
und bereitete sich demüthig vor, das Nacht-
mal zu empfangen.

Schon seit geraumer Zeit war er auch hier-
bei aus Scheinheiligkeit gewohnt, ganz der
Lezte zu seyn, der vor dem Altar hinkniete.
Die Kälte war heute äußerst groß; dem Prie-
ster, einem guten, aber durchs Alter schon ge-
schwächten Greis, zitterten die Hände heute
zwiefach, weil der Frost sie erstarrte, der lan-
ge Verzug sie ermüdete. Als daher jezt jener
Lezte niederknien, und der Geistliche die Ho-
stie ihm reichen wollte, ließ er sie fallen, und
sie zerbrach. So äußerst natürlich dieser Zu-
fall war, so sehr bestürzte er den Heuchler,
der wohl fühlte, wie unwürdig der christlichen

N 5

„laͤßt?“ und ging des andern Morgens mit
der Miene der froͤmmſten Ergebenheit, nebſt
mehrern ſeiner Mitbauern zur Kirche, ſprach
noch unterwegens in den erbaulichſten Aus-
druͤcken von der geſtrigen Rache des Himmels;
und bereitete ſich demuͤthig vor, das Nacht-
mal zu empfangen.

Schon ſeit geraumer Zeit war er auch hier-
bei aus Scheinheiligkeit gewohnt, ganz der
Lezte zu ſeyn, der vor dem Altar hinkniete.
Die Kaͤlte war heute aͤußerſt groß; dem Prie-
ſter, einem guten, aber durchs Alter ſchon ge-
ſchwaͤchten Greis, zitterten die Haͤnde heute
zwiefach, weil der Froſt ſie erſtarrte, der lan-
ge Verzug ſie ermuͤdete. Als daher jezt jener
Lezte niederknien, und der Geiſtliche die Ho-
ſtie ihm reichen wollte, ließ er ſie fallen, und
ſie zerbrach. So aͤußerſt natuͤrlich dieſer Zu-
fall war, ſo ſehr beſtuͤrzte er den Heuchler,
der wohl fuͤhlte, wie unwuͤrdig der chriſtlichen

N 5
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[201/0209] „laͤßt?“ und ging des andern Morgens mit der Miene der froͤmmſten Ergebenheit, nebſt mehrern ſeiner Mitbauern zur Kirche, ſprach noch unterwegens in den erbaulichſten Aus- druͤcken von der geſtrigen Rache des Himmels; und bereitete ſich demuͤthig vor, das Nacht- mal zu empfangen. Schon ſeit geraumer Zeit war er auch hier- bei aus Scheinheiligkeit gewohnt, ganz der Lezte zu ſeyn, der vor dem Altar hinkniete. Die Kaͤlte war heute aͤußerſt groß; dem Prie- ſter, einem guten, aber durchs Alter ſchon ge- ſchwaͤchten Greis, zitterten die Haͤnde heute zwiefach, weil der Froſt ſie erſtarrte, der lan- ge Verzug ſie ermuͤdete. Als daher jezt jener Lezte niederknien, und der Geiſtliche die Ho- ſtie ihm reichen wollte, ließ er ſie fallen, und ſie zerbrach. So aͤußerſt natuͤrlich dieſer Zu- fall war, ſo ſehr beſtuͤrzte er den Heuchler, der wohl fuͤhlte, wie unwuͤrdig der chriſtlichen N 5

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Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/209>, abgerufen am 27.11.2024.