Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.den geheimnißvollen Vorgängen unterrichtet wäre. Damit ist gar nicht gesagt, daß den Müller, was so natürlich gewesen wäre, gemeine Furcht vor Verantwortung beschlich, trotzdem er wohl wußte, daß sich im gegenwärtigen Augenblicke das Gericht und alle Welt den Kopf zerbreche, wie der Gehenkte fortgekommen und in anderer Gestalt erschienen. Diese Furcht hatte er nicht, obwohl er erfuhr, daß Alles aufgeboten werde, um hinter das Geheimniß dieser Vorgänge zu kommen. Die ganze Auffassung seiner That widersprach dieser Furcht gänzlich; auch lag es nicht nahe, anzunehmen, daß durch irgend wen oder irgend was ein Verdacht auf ihn fallen könne. Die Kleidungsstücke, die der Kornergeorg von dem Müller erhalten, und die er am Leibe gehabt, hätten allerdings auf die Spur führen können. Im vorigen Jahrhunderte aber lag diese Gefahr nicht so nahe. Die Criminalprocedur damaliger Zeit war roh und unwissend. Sie verschmähte die Beihülfe der Wissenschaft und richtete dort, wo sie zum Beispiel Vergiftungsfälle annahm, mit dem Schwerte, ohne den Thatbestand durch die chemische Retorte erwiesen zu haben; sie kannte auch die Oeffentlichkeit der Verhandlungen nicht, die den Verbrechern später so gefährlich werden sollte, indem sie Zeugen hervorzauberte, wo sie Niemand ahnte. Das ganze Gerichtswesen stand auf einer niederen Stufe, und so ist es erklärlich, wie ein schlichter Mann sich nicht ängstigte, durch ein paar Kleidungsstücke verrathen zu werden, die abgetragen, den geheimnißvollen Vorgängen unterrichtet wäre. Damit ist gar nicht gesagt, daß den Müller, was so natürlich gewesen wäre, gemeine Furcht vor Verantwortung beschlich, trotzdem er wohl wußte, daß sich im gegenwärtigen Augenblicke das Gericht und alle Welt den Kopf zerbreche, wie der Gehenkte fortgekommen und in anderer Gestalt erschienen. Diese Furcht hatte er nicht, obwohl er erfuhr, daß Alles aufgeboten werde, um hinter das Geheimniß dieser Vorgänge zu kommen. Die ganze Auffassung seiner That widersprach dieser Furcht gänzlich; auch lag es nicht nahe, anzunehmen, daß durch irgend wen oder irgend was ein Verdacht auf ihn fallen könne. Die Kleidungsstücke, die der Kornergeorg von dem Müller erhalten, und die er am Leibe gehabt, hätten allerdings auf die Spur führen können. Im vorigen Jahrhunderte aber lag diese Gefahr nicht so nahe. Die Criminalprocedur damaliger Zeit war roh und unwissend. Sie verschmähte die Beihülfe der Wissenschaft und richtete dort, wo sie zum Beispiel Vergiftungsfälle annahm, mit dem Schwerte, ohne den Thatbestand durch die chemische Retorte erwiesen zu haben; sie kannte auch die Oeffentlichkeit der Verhandlungen nicht, die den Verbrechern später so gefährlich werden sollte, indem sie Zeugen hervorzauberte, wo sie Niemand ahnte. Das ganze Gerichtswesen stand auf einer niederen Stufe, und so ist es erklärlich, wie ein schlichter Mann sich nicht ängstigte, durch ein paar Kleidungsstücke verrathen zu werden, die abgetragen, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="7"> <p><pb facs="#f0051"/> den geheimnißvollen Vorgängen unterrichtet wäre. Damit ist gar nicht gesagt, daß den Müller, was so natürlich gewesen wäre, gemeine Furcht vor Verantwortung beschlich, trotzdem er wohl wußte, daß sich im gegenwärtigen Augenblicke das Gericht und alle Welt den Kopf zerbreche, wie der Gehenkte fortgekommen und in anderer Gestalt erschienen. Diese Furcht hatte er nicht, obwohl er erfuhr, daß Alles aufgeboten werde, um hinter das Geheimniß dieser Vorgänge zu kommen. Die ganze Auffassung seiner That widersprach dieser Furcht gänzlich; auch lag es nicht nahe, anzunehmen, daß durch irgend wen oder irgend was ein Verdacht auf ihn fallen könne. Die Kleidungsstücke, die der Kornergeorg von dem Müller erhalten, und die er am Leibe gehabt, hätten allerdings auf die Spur führen können. Im vorigen Jahrhunderte aber lag diese Gefahr nicht so nahe. Die Criminalprocedur damaliger Zeit war roh und unwissend. Sie verschmähte die Beihülfe der Wissenschaft und richtete dort, wo sie zum Beispiel Vergiftungsfälle annahm, mit dem Schwerte, ohne den Thatbestand durch die chemische Retorte erwiesen zu haben; sie kannte auch die Oeffentlichkeit der Verhandlungen nicht, die den Verbrechern später so gefährlich werden sollte, indem sie Zeugen hervorzauberte, wo sie Niemand ahnte. Das ganze Gerichtswesen stand auf einer niederen Stufe, und so ist es erklärlich, wie ein schlichter Mann sich nicht ängstigte, durch ein paar Kleidungsstücke verrathen zu werden, die abgetragen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0051]
den geheimnißvollen Vorgängen unterrichtet wäre. Damit ist gar nicht gesagt, daß den Müller, was so natürlich gewesen wäre, gemeine Furcht vor Verantwortung beschlich, trotzdem er wohl wußte, daß sich im gegenwärtigen Augenblicke das Gericht und alle Welt den Kopf zerbreche, wie der Gehenkte fortgekommen und in anderer Gestalt erschienen. Diese Furcht hatte er nicht, obwohl er erfuhr, daß Alles aufgeboten werde, um hinter das Geheimniß dieser Vorgänge zu kommen. Die ganze Auffassung seiner That widersprach dieser Furcht gänzlich; auch lag es nicht nahe, anzunehmen, daß durch irgend wen oder irgend was ein Verdacht auf ihn fallen könne. Die Kleidungsstücke, die der Kornergeorg von dem Müller erhalten, und die er am Leibe gehabt, hätten allerdings auf die Spur führen können. Im vorigen Jahrhunderte aber lag diese Gefahr nicht so nahe. Die Criminalprocedur damaliger Zeit war roh und unwissend. Sie verschmähte die Beihülfe der Wissenschaft und richtete dort, wo sie zum Beispiel Vergiftungsfälle annahm, mit dem Schwerte, ohne den Thatbestand durch die chemische Retorte erwiesen zu haben; sie kannte auch die Oeffentlichkeit der Verhandlungen nicht, die den Verbrechern später so gefährlich werden sollte, indem sie Zeugen hervorzauberte, wo sie Niemand ahnte. Das ganze Gerichtswesen stand auf einer niederen Stufe, und so ist es erklärlich, wie ein schlichter Mann sich nicht ängstigte, durch ein paar Kleidungsstücke verrathen zu werden, die abgetragen,
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Zitationshilfe: | Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910/51>, abgerufen am 16.07.2024. |