Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.aus nächster Nähe an. Der Mensch da oben -- der Mensch ist nicht todt -- er lebt! Was Euch doch einfällt! antwortete Wendelin aus Schrecken in einer anfahrenden Weise, sich vor seinem Herrn ängstigend. Ich sage dir, er lebt, rief der Müller, und ich habe ihn abgeschnitten. -- Ihr seid von Sinnen! schrie Wendelin. Ich laufe Euch davon. Hasenfuß! rief der Müller und faßte Wendelin mit seiner riesigen Hand. Der Mensch ist noch am Leben, ich sah und fühlte ihn zucken. Nun, so ist's gut, sagte Wendelin, er ist abgeschnitten und wird zu sich kommen. Fahren wir nach Hause! Indem er das sagte, wollte er abermals auf den Kutschbock steigen. Der Müller wies ihn mit den Worten zurück: Eine Fügung Gottes hat mich dort an den Richtplatz hinaufgesandt. Komm mit, wir wollen den Menschen holen und ihn heimbringen. Diese Worte betäubten Wendelin. Er stotterte kleinlaut und angstvoll: Bedenkt Euch -- rührt nicht an, was des Henkers ist -- Da sagte der Müller voll Nachsicht mit solcher Schwäche: Die Zeit ist kostbar. Der Gedanke würde mich Zeitlebens foltern, daß ich einen Mitmenschen aus nächster Nähe an. Der Mensch da oben — der Mensch ist nicht todt — er lebt! Was Euch doch einfällt! antwortete Wendelin aus Schrecken in einer anfahrenden Weise, sich vor seinem Herrn ängstigend. Ich sage dir, er lebt, rief der Müller, und ich habe ihn abgeschnitten. — Ihr seid von Sinnen! schrie Wendelin. Ich laufe Euch davon. Hasenfuß! rief der Müller und faßte Wendelin mit seiner riesigen Hand. Der Mensch ist noch am Leben, ich sah und fühlte ihn zucken. Nun, so ist's gut, sagte Wendelin, er ist abgeschnitten und wird zu sich kommen. Fahren wir nach Hause! Indem er das sagte, wollte er abermals auf den Kutschbock steigen. Der Müller wies ihn mit den Worten zurück: Eine Fügung Gottes hat mich dort an den Richtplatz hinaufgesandt. Komm mit, wir wollen den Menschen holen und ihn heimbringen. Diese Worte betäubten Wendelin. Er stotterte kleinlaut und angstvoll: Bedenkt Euch — rührt nicht an, was des Henkers ist — Da sagte der Müller voll Nachsicht mit solcher Schwäche: Die Zeit ist kostbar. Der Gedanke würde mich Zeitlebens foltern, daß ich einen Mitmenschen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0021"/> aus nächster Nähe an. Der Mensch da oben — der Mensch ist nicht todt — er lebt!</p><lb/> <p>Was Euch doch einfällt! antwortete Wendelin aus Schrecken in einer anfahrenden Weise, sich vor seinem Herrn ängstigend.</p><lb/> <p>Ich sage dir, er lebt, rief der Müller, und ich habe ihn abgeschnitten. —</p><lb/> <p>Ihr seid von Sinnen! schrie Wendelin. Ich laufe Euch davon.</p><lb/> <p>Hasenfuß! rief der Müller und faßte Wendelin mit seiner riesigen Hand. Der Mensch ist noch am Leben, ich sah und fühlte ihn zucken.</p><lb/> <p>Nun, so ist's gut, sagte Wendelin, er ist abgeschnitten und wird zu sich kommen. Fahren wir nach Hause!</p><lb/> <p>Indem er das sagte, wollte er abermals auf den Kutschbock steigen. Der Müller wies ihn mit den Worten zurück:</p><lb/> <p>Eine Fügung Gottes hat mich dort an den Richtplatz hinaufgesandt. Komm mit, wir wollen den Menschen holen und ihn heimbringen.</p><lb/> <p>Diese Worte betäubten Wendelin. Er stotterte kleinlaut und angstvoll:</p><lb/> <p>Bedenkt Euch — rührt nicht an, was des Henkers ist —</p><lb/> <p>Da sagte der Müller voll Nachsicht mit solcher Schwäche: Die Zeit ist kostbar. Der Gedanke würde mich Zeitlebens foltern, daß ich einen Mitmenschen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
aus nächster Nähe an. Der Mensch da oben — der Mensch ist nicht todt — er lebt!
Was Euch doch einfällt! antwortete Wendelin aus Schrecken in einer anfahrenden Weise, sich vor seinem Herrn ängstigend.
Ich sage dir, er lebt, rief der Müller, und ich habe ihn abgeschnitten. —
Ihr seid von Sinnen! schrie Wendelin. Ich laufe Euch davon.
Hasenfuß! rief der Müller und faßte Wendelin mit seiner riesigen Hand. Der Mensch ist noch am Leben, ich sah und fühlte ihn zucken.
Nun, so ist's gut, sagte Wendelin, er ist abgeschnitten und wird zu sich kommen. Fahren wir nach Hause!
Indem er das sagte, wollte er abermals auf den Kutschbock steigen. Der Müller wies ihn mit den Worten zurück:
Eine Fügung Gottes hat mich dort an den Richtplatz hinaufgesandt. Komm mit, wir wollen den Menschen holen und ihn heimbringen.
Diese Worte betäubten Wendelin. Er stotterte kleinlaut und angstvoll:
Bedenkt Euch — rührt nicht an, was des Henkers ist —
Da sagte der Müller voll Nachsicht mit solcher Schwäche: Die Zeit ist kostbar. Der Gedanke würde mich Zeitlebens foltern, daß ich einen Mitmenschen
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Zitationshilfe: | Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910/21>, abgerufen am 16.07.2024. |