Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Tortur und das Rad im Dienste der Gerechtigkeit arbeiteten, war sie geradezu fremd. Alles kam darin überein, daß, wer Blut vergießt, es wieder mit seinem Blute sühnen müsse. Aber der Müller, wiewohl nur ein schlichter, einfacher Mann, hatte eine höhere Natur empfangen. Obwohl ihm keine Bildung zu Theil geworden, empfand er doch sehr edel und hatte eines jener Gemüther, die einen gewissen Stolz und Ehrgeiz darein setzen, mild, gut, gerecht zu sein, sogar da, wo er selbst Schaden erlitten. Zu solchem edlen Zuge ist ein Grad von Schwärmerei vonnöthen. Diese besaß er auch, und sie hatte sich an die großen, hochsinnigen Sprüche des Evangeliums angeklammert, welche sie formten und leiteten. An einer solchen Natur kann es nicht überraschen, daß sie gegen die Todesstrafe stimmte. Reinbacher's milde Ansichten waren ja keine Frucht der Aufklärung, kein eingelerntes Princip, sie waren von seinem Gemüthe wie von selbst gefunden worden. Man würde sehr irren, ihn für einen der Freigeister zu halten, von denen es gegen den Schluß des vorigen Jahrhunderts zu wimmelte. Im Gegentheil, er war ein ganz positiver Mann, dem das Althergebrachte heilig, dem die Bibel noch heilige Schrift war, und der nur darum edel zu empfinden und recht zu handeln glaubte, weil er sich für einen wahren Christen hielt. Natürlich stand er mit seiner Meinung allein, und von allen Seiten flogen ihm Widersprüche zu. Da er- Tortur und das Rad im Dienste der Gerechtigkeit arbeiteten, war sie geradezu fremd. Alles kam darin überein, daß, wer Blut vergießt, es wieder mit seinem Blute sühnen müsse. Aber der Müller, wiewohl nur ein schlichter, einfacher Mann, hatte eine höhere Natur empfangen. Obwohl ihm keine Bildung zu Theil geworden, empfand er doch sehr edel und hatte eines jener Gemüther, die einen gewissen Stolz und Ehrgeiz darein setzen, mild, gut, gerecht zu sein, sogar da, wo er selbst Schaden erlitten. Zu solchem edlen Zuge ist ein Grad von Schwärmerei vonnöthen. Diese besaß er auch, und sie hatte sich an die großen, hochsinnigen Sprüche des Evangeliums angeklammert, welche sie formten und leiteten. An einer solchen Natur kann es nicht überraschen, daß sie gegen die Todesstrafe stimmte. Reinbacher's milde Ansichten waren ja keine Frucht der Aufklärung, kein eingelerntes Princip, sie waren von seinem Gemüthe wie von selbst gefunden worden. Man würde sehr irren, ihn für einen der Freigeister zu halten, von denen es gegen den Schluß des vorigen Jahrhunderts zu wimmelte. Im Gegentheil, er war ein ganz positiver Mann, dem das Althergebrachte heilig, dem die Bibel noch heilige Schrift war, und der nur darum edel zu empfinden und recht zu handeln glaubte, weil er sich für einen wahren Christen hielt. Natürlich stand er mit seiner Meinung allein, und von allen Seiten flogen ihm Widersprüche zu. Da er- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0013"/> Tortur und das Rad im Dienste der Gerechtigkeit arbeiteten, war sie geradezu fremd. Alles kam darin überein, daß, wer Blut vergießt, es wieder mit seinem Blute sühnen müsse.</p><lb/> <p>Aber der Müller, wiewohl nur ein schlichter, einfacher Mann, hatte eine höhere Natur empfangen. Obwohl ihm keine Bildung zu Theil geworden, empfand er doch sehr edel und hatte eines jener Gemüther, die einen gewissen Stolz und Ehrgeiz darein setzen, mild, gut, gerecht zu sein, sogar da, wo er selbst Schaden erlitten. Zu solchem edlen Zuge ist ein Grad von Schwärmerei vonnöthen. Diese besaß er auch, und sie hatte sich an die großen, hochsinnigen Sprüche des Evangeliums angeklammert, welche sie formten und leiteten.</p><lb/> <p>An einer solchen Natur kann es nicht überraschen, daß sie gegen die Todesstrafe stimmte. Reinbacher's milde Ansichten waren ja keine Frucht der Aufklärung, kein eingelerntes Princip, sie waren von seinem Gemüthe wie von selbst gefunden worden. Man würde sehr irren, ihn für einen der Freigeister zu halten, von denen es gegen den Schluß des vorigen Jahrhunderts zu wimmelte. Im Gegentheil, er war ein ganz positiver Mann, dem das Althergebrachte heilig, dem die Bibel noch heilige Schrift war, und der nur darum edel zu empfinden und recht zu handeln glaubte, weil er sich für einen wahren Christen hielt.</p><lb/> <p>Natürlich stand er mit seiner Meinung allein, und von allen Seiten flogen ihm Widersprüche zu. Da er-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0013]
Tortur und das Rad im Dienste der Gerechtigkeit arbeiteten, war sie geradezu fremd. Alles kam darin überein, daß, wer Blut vergießt, es wieder mit seinem Blute sühnen müsse.
Aber der Müller, wiewohl nur ein schlichter, einfacher Mann, hatte eine höhere Natur empfangen. Obwohl ihm keine Bildung zu Theil geworden, empfand er doch sehr edel und hatte eines jener Gemüther, die einen gewissen Stolz und Ehrgeiz darein setzen, mild, gut, gerecht zu sein, sogar da, wo er selbst Schaden erlitten. Zu solchem edlen Zuge ist ein Grad von Schwärmerei vonnöthen. Diese besaß er auch, und sie hatte sich an die großen, hochsinnigen Sprüche des Evangeliums angeklammert, welche sie formten und leiteten.
An einer solchen Natur kann es nicht überraschen, daß sie gegen die Todesstrafe stimmte. Reinbacher's milde Ansichten waren ja keine Frucht der Aufklärung, kein eingelerntes Princip, sie waren von seinem Gemüthe wie von selbst gefunden worden. Man würde sehr irren, ihn für einen der Freigeister zu halten, von denen es gegen den Schluß des vorigen Jahrhunderts zu wimmelte. Im Gegentheil, er war ein ganz positiver Mann, dem das Althergebrachte heilig, dem die Bibel noch heilige Schrift war, und der nur darum edel zu empfinden und recht zu handeln glaubte, weil er sich für einen wahren Christen hielt.
Natürlich stand er mit seiner Meinung allein, und von allen Seiten flogen ihm Widersprüche zu. Da er-
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Zitationshilfe: | Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910/13>, abgerufen am 16.07.2024. |