Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 2. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 33. Enteignungsverfahren.

2. In welchem Umfange das Grundeigentum in Anspruch ge-
nommen werden soll, bestimmt sich einzig nach dem Bedürfnis des
Unternehmens. Es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage und als solche eine
Frage des freien Ermessens. Dieses Ermessen bleibt ein freies, auch
wenn es der Forderung unterliegt, daß es geleitet sei von Verstand
und Gerechtigkeit; es hat eine Grenze nur an dem Punkte, wo es in
offenbaren Mißbrauch übergeht34.

Auf mehr, als nach solchem Ermessen nötig erscheinen mag, soll
die Enteignung nicht gehen. Diese Regel entscheidet nicht bloß über
die Frage, ob das einzelne Grundstück überhaupt in Anspruch zu
nehmen ist, sondern auch über das Maß, in welchem es zu erfasssen
ist: von jedem einzelnen darf nicht mehr genommen werden, als der
Zweck erfordert.

Das Gesetz kann aber durch ausdrückliche Bestimmung Ab-
weichungen von diesem Grundsatze vorschreiben, sodaß die Behörde
die Enteignung aussprechen muß auch über Grundstücke und Grund-
stücksteile, welche nach ihrem Ermessen für das Unternehmen selbst
nicht erforderlich wären. Diese Ausdehnung der Enteignung
über ihren eigentlichen Zweck hinaus hat jeweils die Bedeutung einer
besonderen Berücksichtigung des Vermögensinteresses des einen oder
des anderen Teiles. Sie kommt demgemäß immer nur zur Anwendung
infolge und auf Grund einer besonderen darauf gerichteten Willens-
erklärung des Begünstigten.

Hierher gehören Ausnahmsbestimmungen, welche dem Unternehmer

Unternehmen kann ausweichen. Es kann ihm aber auch ein Mitbesitz und Mit-
genuß am öffentlichen Eigentum eingeräumt werden. Das bedeutet entweder die
Neuordnung der Bestimmung einer öffentlichen Sache (unten § 36, I n. 1) oder die
Verleihung einer besonderen Nutzung daran zu Gunsten des neuen Unternehmens
(unten § 39) oder die Beschränkung einer vorhandenen verliehenen Nutzung,
einen teilweisen Widerruf der alten Verleihung zu Gunsten des neuen Unter-
nehmens. Handelt es sich um das öffentliche Eigentum eines Selbstverwaltungs-
körpers, so können diese Gestattungen der Mitbenutzung möglicherweise im Auf-
sichtswege erzwungen werden (unten § 59). Beispiele bei de Lalleau, traite de
l'expropr. I n. 182; Prazak, R. der Enteignung S. 76 Anm. 11; F. Seydel,
Ges. über die Enteignung S. 7 Note d; hierher gehören auch die Normativ-
bestimmungen über die Mitbenutzung von Chausseen und anderen öffentlichen
Wegen zur Anlage von Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung in Erlasse des
Preuß. M. d. öff. Arb. v. 8. März 1881. Das sind alles juristisch sehr bedeutsame
Vorgänge, aber keine Enteignungen, wie F. Seydel a. a. O. meint. Im Zu-
sammenhange der zugehörigen Rechtsinstitute werden sie sich näher erläutern.
34 Seydel, Bayr. St.R. III S. 646 Note 2, will insbesondere auch diesen
Punkt als einen Gegenstand "richterlichen Ermessens" für die Verwaltungsrechts-
pflege in Anspruch nehmen. Vgl. oben Note 14.
§ 33. Enteignungsverfahren.

2. In welchem Umfange das Grundeigentum in Anspruch ge-
nommen werden soll, bestimmt sich einzig nach dem Bedürfnis des
Unternehmens. Es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage und als solche eine
Frage des freien Ermessens. Dieses Ermessen bleibt ein freies, auch
wenn es der Forderung unterliegt, daß es geleitet sei von Verstand
und Gerechtigkeit; es hat eine Grenze nur an dem Punkte, wo es in
offenbaren Mißbrauch übergeht34.

Auf mehr, als nach solchem Ermessen nötig erscheinen mag, soll
die Enteignung nicht gehen. Diese Regel entscheidet nicht bloß über
die Frage, ob das einzelne Grundstück überhaupt in Anspruch zu
nehmen ist, sondern auch über das Maß, in welchem es zu erfasssen
ist: von jedem einzelnen darf nicht mehr genommen werden, als der
Zweck erfordert.

Das Gesetz kann aber durch ausdrückliche Bestimmung Ab-
weichungen von diesem Grundsatze vorschreiben, sodaß die Behörde
die Enteignung aussprechen muß auch über Grundstücke und Grund-
stücksteile, welche nach ihrem Ermessen für das Unternehmen selbst
nicht erforderlich wären. Diese Ausdehnung der Enteignung
über ihren eigentlichen Zweck hinaus hat jeweils die Bedeutung einer
besonderen Berücksichtigung des Vermögensinteresses des einen oder
des anderen Teiles. Sie kommt demgemäß immer nur zur Anwendung
infolge und auf Grund einer besonderen darauf gerichteten Willens-
erklärung des Begünstigten.

Hierher gehören Ausnahmsbestimmungen, welche dem Unternehmer

Unternehmen kann ausweichen. Es kann ihm aber auch ein Mitbesitz und Mit-
genuß am öffentlichen Eigentum eingeräumt werden. Das bedeutet entweder die
Neuordnung der Bestimmung einer öffentlichen Sache (unten § 36, I n. 1) oder die
Verleihung einer besonderen Nutzung daran zu Gunsten des neuen Unternehmens
(unten § 39) oder die Beschränkung einer vorhandenen verliehenen Nutzung,
einen teilweisen Widerruf der alten Verleihung zu Gunsten des neuen Unter-
nehmens. Handelt es sich um das öffentliche Eigentum eines Selbstverwaltungs-
körpers, so können diese Gestattungen der Mitbenutzung möglicherweise im Auf-
sichtswege erzwungen werden (unten § 59). Beispiele bei de Lalleau, traité de
l’expropr. I n. 182; Prazak, R. der Enteignung S. 76 Anm. 11; F. Seydel,
Ges. über die Enteignung S. 7 Note d; hierher gehören auch die Normativ-
bestimmungen über die Mitbenutzung von Chausseen und anderen öffentlichen
Wegen zur Anlage von Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung in Erlasse des
Preuß. M. d. öff. Arb. v. 8. März 1881. Das sind alles juristisch sehr bedeutsame
Vorgänge, aber keine Enteignungen, wie F. Seydel a. a. O. meint. Im Zu-
sammenhange der zugehörigen Rechtsinstitute werden sie sich näher erläutern.
34 Seydel, Bayr. St.R. III S. 646 Note 2, will insbesondere auch diesen
Punkt als einen Gegenstand „richterlichen Ermessens“ für die Verwaltungsrechts-
pflege in Anspruch nehmen. Vgl. oben Note 14.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0039" n="27"/>
              <fw place="top" type="header">§ 33. Enteignungsverfahren.</fw><lb/>
              <p>2. In welchem Umfange das Grundeigentum in Anspruch ge-<lb/>
nommen werden soll, bestimmt sich einzig nach dem Bedürfnis des<lb/>
Unternehmens. Es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage und als solche eine<lb/>
Frage des freien Ermessens. Dieses Ermessen bleibt ein freies, auch<lb/>
wenn es der Forderung unterliegt, daß es geleitet sei von Verstand<lb/>
und Gerechtigkeit; es hat eine Grenze nur an dem Punkte, wo es in<lb/>
offenbaren Mißbrauch übergeht<note place="foot" n="34"><hi rendition="#g">Seydel,</hi> Bayr. St.R. III S. 646 Note 2, will insbesondere auch diesen<lb/>
Punkt als einen Gegenstand &#x201E;richterlichen Ermessens&#x201C; für die Verwaltungsrechts-<lb/>
pflege in Anspruch nehmen. Vgl. oben Note 14.</note>.</p><lb/>
              <p>Auf mehr, als nach solchem Ermessen nötig erscheinen mag, soll<lb/>
die Enteignung nicht gehen. Diese Regel entscheidet nicht bloß über<lb/>
die Frage, ob das einzelne Grundstück überhaupt in Anspruch zu<lb/>
nehmen ist, sondern auch über das Maß, in welchem es zu erfasssen<lb/>
ist: von jedem einzelnen darf nicht mehr genommen werden, als der<lb/>
Zweck erfordert.</p><lb/>
              <p>Das Gesetz kann aber durch ausdrückliche Bestimmung Ab-<lb/>
weichungen von diesem Grundsatze vorschreiben, sodaß die Behörde<lb/>
die Enteignung aussprechen muß auch über Grundstücke und Grund-<lb/>
stücksteile, welche nach ihrem Ermessen für das Unternehmen selbst<lb/><hi rendition="#g">nicht erforderlich</hi> wären. Diese Ausdehnung der Enteignung<lb/>
über ihren eigentlichen Zweck hinaus hat jeweils die Bedeutung einer<lb/>
besonderen Berücksichtigung des Vermögensinteresses des einen oder<lb/>
des anderen Teiles. Sie kommt demgemäß immer nur zur Anwendung<lb/>
infolge und auf Grund einer besonderen darauf gerichteten Willens-<lb/>
erklärung des Begünstigten.</p><lb/>
              <p>Hierher gehören Ausnahmsbestimmungen, welche dem Unternehmer<lb/><note xml:id="seg2pn_8_2" prev="#seg2pn_8_1" place="foot" n="33">Unternehmen kann ausweichen. Es kann ihm aber auch ein Mitbesitz und Mit-<lb/>
genuß am öffentlichen Eigentum eingeräumt werden. Das bedeutet entweder die<lb/>
Neuordnung der Bestimmung einer öffentlichen Sache (unten § 36, I n. 1) oder die<lb/>
Verleihung einer besonderen Nutzung daran zu Gunsten des neuen Unternehmens<lb/>
(unten § 39) oder die Beschränkung einer vorhandenen verliehenen Nutzung,<lb/>
einen teilweisen Widerruf der alten Verleihung zu Gunsten des neuen Unter-<lb/>
nehmens. Handelt es sich um das öffentliche Eigentum eines Selbstverwaltungs-<lb/>
körpers, so können diese Gestattungen der Mitbenutzung möglicherweise im Auf-<lb/>
sichtswege erzwungen werden (unten § 59). Beispiele bei <hi rendition="#g">de Lalleau,</hi> traité de<lb/>
l&#x2019;expropr. I n. 182; <hi rendition="#g">Prazak,</hi> R. der Enteignung S. 76 Anm. 11; F. <hi rendition="#g">Seydel,</hi><lb/>
Ges. über die Enteignung S. 7 Note d; hierher gehören auch die Normativ-<lb/>
bestimmungen über die Mitbenutzung von Chausseen und anderen öffentlichen<lb/>
Wegen zur Anlage von Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung in Erlasse des<lb/>
Preuß. M. d. öff. Arb. v. 8. März 1881. Das sind alles juristisch sehr bedeutsame<lb/>
Vorgänge, aber keine Enteignungen, wie F. <hi rendition="#g">Seydel</hi> a. a. O. meint. Im Zu-<lb/>
sammenhange der zugehörigen Rechtsinstitute werden sie sich näher erläutern.</note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0039] § 33. Enteignungsverfahren. 2. In welchem Umfange das Grundeigentum in Anspruch ge- nommen werden soll, bestimmt sich einzig nach dem Bedürfnis des Unternehmens. Es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage und als solche eine Frage des freien Ermessens. Dieses Ermessen bleibt ein freies, auch wenn es der Forderung unterliegt, daß es geleitet sei von Verstand und Gerechtigkeit; es hat eine Grenze nur an dem Punkte, wo es in offenbaren Mißbrauch übergeht 34. Auf mehr, als nach solchem Ermessen nötig erscheinen mag, soll die Enteignung nicht gehen. Diese Regel entscheidet nicht bloß über die Frage, ob das einzelne Grundstück überhaupt in Anspruch zu nehmen ist, sondern auch über das Maß, in welchem es zu erfasssen ist: von jedem einzelnen darf nicht mehr genommen werden, als der Zweck erfordert. Das Gesetz kann aber durch ausdrückliche Bestimmung Ab- weichungen von diesem Grundsatze vorschreiben, sodaß die Behörde die Enteignung aussprechen muß auch über Grundstücke und Grund- stücksteile, welche nach ihrem Ermessen für das Unternehmen selbst nicht erforderlich wären. Diese Ausdehnung der Enteignung über ihren eigentlichen Zweck hinaus hat jeweils die Bedeutung einer besonderen Berücksichtigung des Vermögensinteresses des einen oder des anderen Teiles. Sie kommt demgemäß immer nur zur Anwendung infolge und auf Grund einer besonderen darauf gerichteten Willens- erklärung des Begünstigten. Hierher gehören Ausnahmsbestimmungen, welche dem Unternehmer 33 34 Seydel, Bayr. St.R. III S. 646 Note 2, will insbesondere auch diesen Punkt als einen Gegenstand „richterlichen Ermessens“ für die Verwaltungsrechts- pflege in Anspruch nehmen. Vgl. oben Note 14. 33 Unternehmen kann ausweichen. Es kann ihm aber auch ein Mitbesitz und Mit- genuß am öffentlichen Eigentum eingeräumt werden. Das bedeutet entweder die Neuordnung der Bestimmung einer öffentlichen Sache (unten § 36, I n. 1) oder die Verleihung einer besonderen Nutzung daran zu Gunsten des neuen Unternehmens (unten § 39) oder die Beschränkung einer vorhandenen verliehenen Nutzung, einen teilweisen Widerruf der alten Verleihung zu Gunsten des neuen Unter- nehmens. Handelt es sich um das öffentliche Eigentum eines Selbstverwaltungs- körpers, so können diese Gestattungen der Mitbenutzung möglicherweise im Auf- sichtswege erzwungen werden (unten § 59). Beispiele bei de Lalleau, traité de l’expropr. I n. 182; Prazak, R. der Enteignung S. 76 Anm. 11; F. Seydel, Ges. über die Enteignung S. 7 Note d; hierher gehören auch die Normativ- bestimmungen über die Mitbenutzung von Chausseen und anderen öffentlichen Wegen zur Anlage von Eisenbahnen untergeordneter Bedeutung in Erlasse des Preuß. M. d. öff. Arb. v. 8. März 1881. Das sind alles juristisch sehr bedeutsame Vorgänge, aber keine Enteignungen, wie F. Seydel a. a. O. meint. Im Zu- sammenhange der zugehörigen Rechtsinstitute werden sie sich näher erläutern.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht02_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht02_1896/39
Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 2. Leipzig, 1896, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht02_1896/39>, abgerufen am 27.11.2024.