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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 3. Die landesherrlichen Hoheitsrechte.
rufen ist, auch diese zu durchbrechen und demgemäss den Abschluss
des ganzen Systems bildet.

Die wohlerworbenen Rechte der Einzelnen bilden nämlich eine
Schranke für die Hoheitsrechte nur im gewöhnlichen Laufe der
Dinge19. In Ausnahmsfällen ist das öffentliche Interesse, die Staats-
raison, auch daran nicht gebunden. Voraussetzung ist die Kollision
d. h., dass die Beseitigung eines wohlerworbenen Rechtes notwendig
ist für die Erreichung der Staatszwecke. Dann kann das Eigentum
entzogen, das Privilegium aufgehoben, der Vertrag gebrochen werden.
Diese ausserordentliche Gewalt gestaltet sich wieder zu einem eigenen
landesherrlichen Hoheitsrecht, welches hinter allen anderen ergänzend
steht, genannt jus eminens, äusserstes Recht der Staatsgewalt,
potestas, imperium oder dominium eminens, Machtvollkommenheit20.

III. Die Reichsgerichte sind über die Inhaber der Landeshoheit
gesetzt in doppelter Weise:

1. zur Nachprüfung der von ihnen und in ihrem Namen gehand-
habten Rechtspflege auf Anrufen der Beteiligten durch das ordentliche
Rechtsmittel der Appellation.

Der gemeine Prozess, wie er beim Reichskammergericht zur An-
wendung kam, zerfiel in zwei Teile. Der eigentliche Prozess,
Judizialprozess, beginnt erst mit der Verhandlung zwischen den
Parteien vor Gericht. Alles was vorher und daneben geschieht in
einseitigen Parteivorträgen und Beschlüssen des Richters, ist Extra-
judizialprozess
. Gegen die Urteile im ersteren Verfahren geht
die eigentliche Appellation, gegen Beschlüsse der letzteren Art giebt
es ein entsprechendes Rechtsmittel, die Extrajudizialappella-
tion,
gerichtliche Beschwerde nach heutigem Ausdruck21.

19 "Ordinarie" wie Pütter sagt (Inst. § 119).
20 Klüber, Öff. R. § 552: "Dieses traurige sogenannte Recht". Wir machen
heutzutage ganz dieselben Dinge auf Grund gesetzlicher Bestimmungen, welche sie
ordentlicherweise vorsehen. -- Eine Kollision liegt schon vor, wenn die publica
utilitas in Frage ist: Hugo Grotius, J. B. et P. III Cap. XX § 7; Pütter,
Beitr. I S. 358. Wenn der Letztere ebenda S. 356 sogar die Steuerauflage als
Eingriff in jura quaesita vermöge des dom. em. behandelt, so hängt das an äusser-
lichen Gründen seiner systematischen Einteilung; in diesen Dingen ist Pütter un-
erbittlich. -- In dem oben Note 10 angeführten Fall wird eine Enteignung zunächst
ganz aus dem gewöhnlichen jus politiae begründet, dann aber allerdings doch noch
das jus eminens ausdrücklich angerufen; es soll eben aus polizeilichen Gründen
ein wohlerworbenes Recht entzogen werden. Das jus eminens hat dann das
Besondere, dass seine Geltendmachung einen Anspruch auf Entschädigung be-
gründet; Pütter, Beitr. I S. 357, erklärt das aus der lex Rhodia de jactu.
21 v. Cramer, Wetzl. Nebenst. VII S. 86; Häberlin, St.R. II S. 341;
Bayer, Gem. C.Pr. II § 309 B.
Binding, Handbuch. VI. 1: Otto Mayer, Verwaltungsr. I. 3

§ 3. Die landesherrlichen Hoheitsrechte.
rufen ist, auch diese zu durchbrechen und demgemäſs den Abschluſs
des ganzen Systems bildet.

Die wohlerworbenen Rechte der Einzelnen bilden nämlich eine
Schranke für die Hoheitsrechte nur im gewöhnlichen Laufe der
Dinge19. In Ausnahmsfällen ist das öffentliche Interesse, die Staats-
raison, auch daran nicht gebunden. Voraussetzung ist die Kollision
d. h., daſs die Beseitigung eines wohlerworbenen Rechtes notwendig
ist für die Erreichung der Staatszwecke. Dann kann das Eigentum
entzogen, das Privilegium aufgehoben, der Vertrag gebrochen werden.
Diese auſserordentliche Gewalt gestaltet sich wieder zu einem eigenen
landesherrlichen Hoheitsrecht, welches hinter allen anderen ergänzend
steht, genannt jus eminens, äuſserstes Recht der Staatsgewalt,
potestas, imperium oder dominium eminens, Machtvollkommenheit20.

III. Die Reichsgerichte sind über die Inhaber der Landeshoheit
gesetzt in doppelter Weise:

1. zur Nachprüfung der von ihnen und in ihrem Namen gehand-
habten Rechtspflege auf Anrufen der Beteiligten durch das ordentliche
Rechtsmittel der Appellation.

Der gemeine Prozeſs, wie er beim Reichskammergericht zur An-
wendung kam, zerfiel in zwei Teile. Der eigentliche Prozeſs,
Judizialprozeſs, beginnt erst mit der Verhandlung zwischen den
Parteien vor Gericht. Alles was vorher und daneben geschieht in
einseitigen Parteivorträgen und Beschlüssen des Richters, ist Extra-
judizialprozeſs
. Gegen die Urteile im ersteren Verfahren geht
die eigentliche Appellation, gegen Beschlüsse der letzteren Art giebt
es ein entsprechendes Rechtsmittel, die Extrajudizialappella-
tion,
gerichtliche Beschwerde nach heutigem Ausdruck21.

19 „Ordinarie“ wie Pütter sagt (Inst. § 119).
20 Klüber, Öff. R. § 552: „Dieses traurige sogenannte Recht“. Wir machen
heutzutage ganz dieselben Dinge auf Grund gesetzlicher Bestimmungen, welche sie
ordentlicherweise vorsehen. — Eine Kollision liegt schon vor, wenn die publica
utilitas in Frage ist: Hugo Grotius, J. B. et P. III Cap. XX § 7; Pütter,
Beitr. I S. 358. Wenn der Letztere ebenda S. 356 sogar die Steuerauflage als
Eingriff in jura quaesita vermöge des dom. em. behandelt, so hängt das an äuſser-
lichen Gründen seiner systematischen Einteilung; in diesen Dingen ist Pütter un-
erbittlich. — In dem oben Note 10 angeführten Fall wird eine Enteignung zunächst
ganz aus dem gewöhnlichen jus politiae begründet, dann aber allerdings doch noch
das jus eminens ausdrücklich angerufen; es soll eben aus polizeilichen Gründen
ein wohlerworbenes Recht entzogen werden. Das jus eminens hat dann das
Besondere, daſs seine Geltendmachung einen Anspruch auf Entschädigung be-
gründet; Pütter, Beitr. I S. 357, erklärt das aus der lex Rhodia de jactu.
21 v. Cramer, Wetzl. Nebenst. VII S. 86; Häberlin, St.R. II S. 341;
Bayer, Gem. C.Pr. II § 309 B.
Binding, Handbuch. VI. 1: Otto Mayer, Verwaltungsr. I. 3
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[33/0053] § 3. Die landesherrlichen Hoheitsrechte. rufen ist, auch diese zu durchbrechen und demgemäſs den Abschluſs des ganzen Systems bildet. Die wohlerworbenen Rechte der Einzelnen bilden nämlich eine Schranke für die Hoheitsrechte nur im gewöhnlichen Laufe der Dinge 19. In Ausnahmsfällen ist das öffentliche Interesse, die Staats- raison, auch daran nicht gebunden. Voraussetzung ist die Kollision d. h., daſs die Beseitigung eines wohlerworbenen Rechtes notwendig ist für die Erreichung der Staatszwecke. Dann kann das Eigentum entzogen, das Privilegium aufgehoben, der Vertrag gebrochen werden. Diese auſserordentliche Gewalt gestaltet sich wieder zu einem eigenen landesherrlichen Hoheitsrecht, welches hinter allen anderen ergänzend steht, genannt jus eminens, äuſserstes Recht der Staatsgewalt, potestas, imperium oder dominium eminens, Machtvollkommenheit 20. III. Die Reichsgerichte sind über die Inhaber der Landeshoheit gesetzt in doppelter Weise: 1. zur Nachprüfung der von ihnen und in ihrem Namen gehand- habten Rechtspflege auf Anrufen der Beteiligten durch das ordentliche Rechtsmittel der Appellation. Der gemeine Prozeſs, wie er beim Reichskammergericht zur An- wendung kam, zerfiel in zwei Teile. Der eigentliche Prozeſs, Judizialprozeſs, beginnt erst mit der Verhandlung zwischen den Parteien vor Gericht. Alles was vorher und daneben geschieht in einseitigen Parteivorträgen und Beschlüssen des Richters, ist Extra- judizialprozeſs. Gegen die Urteile im ersteren Verfahren geht die eigentliche Appellation, gegen Beschlüsse der letzteren Art giebt es ein entsprechendes Rechtsmittel, die Extrajudizialappella- tion, gerichtliche Beschwerde nach heutigem Ausdruck 21. 19 „Ordinarie“ wie Pütter sagt (Inst. § 119). 20 Klüber, Öff. R. § 552: „Dieses traurige sogenannte Recht“. Wir machen heutzutage ganz dieselben Dinge auf Grund gesetzlicher Bestimmungen, welche sie ordentlicherweise vorsehen. — Eine Kollision liegt schon vor, wenn die publica utilitas in Frage ist: Hugo Grotius, J. B. et P. III Cap. XX § 7; Pütter, Beitr. I S. 358. Wenn der Letztere ebenda S. 356 sogar die Steuerauflage als Eingriff in jura quaesita vermöge des dom. em. behandelt, so hängt das an äuſser- lichen Gründen seiner systematischen Einteilung; in diesen Dingen ist Pütter un- erbittlich. — In dem oben Note 10 angeführten Fall wird eine Enteignung zunächst ganz aus dem gewöhnlichen jus politiae begründet, dann aber allerdings doch noch das jus eminens ausdrücklich angerufen; es soll eben aus polizeilichen Gründen ein wohlerworbenes Recht entzogen werden. Das jus eminens hat dann das Besondere, daſs seine Geltendmachung einen Anspruch auf Entschädigung be- gründet; Pütter, Beitr. I S. 357, erklärt das aus der lex Rhodia de jactu. 21 v. Cramer, Wetzl. Nebenst. VII S. 86; Häberlin, St.R. II S. 341; Bayer, Gem. C.Pr. II § 309 B. Binding, Handbuch. VI. 1: Otto Mayer, Verwaltungsr. I. 3

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/53>, abgerufen am 28.11.2024.