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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Die Finanzgewalt.
richten auf die Vereitelung der Wirksamkeit eines Eingriffes der
Finanzgewalt,
einer Leistungspflicht, einer Freiheitsbeschränkung,
die diese ihm zuvor auferlegt hatte, um ihn zu zwingen, seine Zah-
lungsverbindlichkeiten selbst zu offenbaren und dazu beizutragen, dass
diese erkannt und gesichert werden. Nach dem gemeinen Massstab
wäre sein Vorgehen, gerade um dieser Pflichten willen, denen er sich
durch die Täuschung entzieht, Betrug, das ist nicht zu bestreiten.
Denn diese Hülfseinrichtungen der Finanzgewalt bilden ihm gegenüber
einen Machtkreis des Staates, der auf dem Boden seiner natürlichen Frei-
heit begründet ist, es ist wahr, aber in gesetzlicher Weise und rechts-
gültig begründet ist. Die Täuschung ist ein Angriff gegen diesen Macht-
kreis. Wenn man sie thatsächlich dennoch nicht als Betrug behandelt,
so muss man wissen, was man damit thut. Es bedeutet nichts anderes,
als dass die Täuschung, die nur darauf gerichtet ist, sich den
Wirkungen solcher Freiheitbeschränkungen zu entziehen, nur gegen
das von der Finanzgewalt gegenüber der Freiheit des Einzelnen er-
oberte Gebiet, wie wir es nennen mögen, für die Frage des gemein-
rechtlichen Betruges noch als Abwehr, nicht als Angriff betrachtet wird.

Darin liegt die wahre rechtliche Natur der Erscheinung, die wir
da vor uns haben. Nach diesem Massstabe ergiebt sich auch mit
Sicherheit die Abgrenzung aller einzelnen Fälle von Hinterziehung,
die, obwohl äusserlich die Merkmale des Betruges an sich tragend,
doch nicht als Betrug behandelt werden. Ein derartiges Anders-
rechnen eines einzelnen Begriffselementes ist ja auch auf anderen Ge-
bieten keine unbekannte Rechtsfigur29. Dass sie gerade hier zur
Geltung gekommen ist, darf man nicht so ohne weiteres als eine Lax-
heit des sittlichen Gefühls verdammen. Im Gegenteil: es kommt
darin sehr wohl der Unterschied zum Ausdruck zwischen der rein
menschlichen Sittlichkeit, deren Verletzung das Betrugsrecht ahnden
soll, und den künstlichen Pflichten und Beschränkungen, welche eine
strebsame Finanzverwaltung von einer allezeit willigen Gesetzgebung
zu ihren Gunsten aufstellen lässt.

29 Ein Seitenstück dazu hat Jhering, Zweck im Rechte II S. 260 ff., in der
Lehre vom propulsiven und kompulsiven Zwang zur Darstellung gebracht. Ersterer,
der Angriff, ist, wie er ausführt, dem Einzelnen nicht gestattet. Es kann aber vor-
kommen, dass in gewissen Beziehungen eine Handlung noch als kompulsiver Zwang
gerechnet wird, die ihrer Form nach propulsiver Zwang, Angriff wäre. Abwehr
eines Angriffes auf meinen Besitz ist kompulsiv. Wiederabnahme des gewaltsam
entzogenen Besitzes propulsiv; für die Besitzklage jedoch wird das letztere noch
als kompulsiv, mithin als erlaubt behandelt. Das ist ganz unser Fall.

Die Finanzgewalt.
richten auf die Vereitelung der Wirksamkeit eines Eingriffes der
Finanzgewalt,
einer Leistungspflicht, einer Freiheitsbeschränkung,
die diese ihm zuvor auferlegt hatte, um ihn zu zwingen, seine Zah-
lungsverbindlichkeiten selbst zu offenbaren und dazu beizutragen, daſs
diese erkannt und gesichert werden. Nach dem gemeinen Maſsstab
wäre sein Vorgehen, gerade um dieser Pflichten willen, denen er sich
durch die Täuschung entzieht, Betrug, das ist nicht zu bestreiten.
Denn diese Hülfseinrichtungen der Finanzgewalt bilden ihm gegenüber
einen Machtkreis des Staates, der auf dem Boden seiner natürlichen Frei-
heit begründet ist, es ist wahr, aber in gesetzlicher Weise und rechts-
gültig begründet ist. Die Täuschung ist ein Angriff gegen diesen Macht-
kreis. Wenn man sie thatsächlich dennoch nicht als Betrug behandelt,
so muſs man wissen, was man damit thut. Es bedeutet nichts anderes,
als daſs die Täuschung, die nur darauf gerichtet ist, sich den
Wirkungen solcher Freiheitbeschränkungen zu entziehen, nur gegen
das von der Finanzgewalt gegenüber der Freiheit des Einzelnen er-
oberte Gebiet, wie wir es nennen mögen, für die Frage des gemein-
rechtlichen Betruges noch als Abwehr, nicht als Angriff betrachtet wird.

Darin liegt die wahre rechtliche Natur der Erscheinung, die wir
da vor uns haben. Nach diesem Maſsstabe ergiebt sich auch mit
Sicherheit die Abgrenzung aller einzelnen Fälle von Hinterziehung,
die, obwohl äuſserlich die Merkmale des Betruges an sich tragend,
doch nicht als Betrug behandelt werden. Ein derartiges Anders-
rechnen eines einzelnen Begriffselementes ist ja auch auf anderen Ge-
bieten keine unbekannte Rechtsfigur29. Daſs sie gerade hier zur
Geltung gekommen ist, darf man nicht so ohne weiteres als eine Lax-
heit des sittlichen Gefühls verdammen. Im Gegenteil: es kommt
darin sehr wohl der Unterschied zum Ausdruck zwischen der rein
menschlichen Sittlichkeit, deren Verletzung das Betrugsrecht ahnden
soll, und den künstlichen Pflichten und Beschränkungen, welche eine
strebsame Finanzverwaltung von einer allezeit willigen Gesetzgebung
zu ihren Gunsten aufstellen läſst.

29 Ein Seitenstück dazu hat Jhering, Zweck im Rechte II S. 260 ff., in der
Lehre vom propulsiven und kompulsiven Zwang zur Darstellung gebracht. Ersterer,
der Angriff, ist, wie er ausführt, dem Einzelnen nicht gestattet. Es kann aber vor-
kommen, daſs in gewissen Beziehungen eine Handlung noch als kompulsiver Zwang
gerechnet wird, die ihrer Form nach propulsiver Zwang, Angriff wäre. Abwehr
eines Angriffes auf meinen Besitz ist kompulsiv. Wiederabnahme des gewaltsam
entzogenen Besitzes propulsiv; für die Besitzklage jedoch wird das letztere noch
als kompulsiv, mithin als erlaubt behandelt. Das ist ganz unser Fall.
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[462/0482] Die Finanzgewalt. richten auf die Vereitelung der Wirksamkeit eines Eingriffes der Finanzgewalt, einer Leistungspflicht, einer Freiheitsbeschränkung, die diese ihm zuvor auferlegt hatte, um ihn zu zwingen, seine Zah- lungsverbindlichkeiten selbst zu offenbaren und dazu beizutragen, daſs diese erkannt und gesichert werden. Nach dem gemeinen Maſsstab wäre sein Vorgehen, gerade um dieser Pflichten willen, denen er sich durch die Täuschung entzieht, Betrug, das ist nicht zu bestreiten. Denn diese Hülfseinrichtungen der Finanzgewalt bilden ihm gegenüber einen Machtkreis des Staates, der auf dem Boden seiner natürlichen Frei- heit begründet ist, es ist wahr, aber in gesetzlicher Weise und rechts- gültig begründet ist. Die Täuschung ist ein Angriff gegen diesen Macht- kreis. Wenn man sie thatsächlich dennoch nicht als Betrug behandelt, so muſs man wissen, was man damit thut. Es bedeutet nichts anderes, als daſs die Täuschung, die nur darauf gerichtet ist, sich den Wirkungen solcher Freiheitbeschränkungen zu entziehen, nur gegen das von der Finanzgewalt gegenüber der Freiheit des Einzelnen er- oberte Gebiet, wie wir es nennen mögen, für die Frage des gemein- rechtlichen Betruges noch als Abwehr, nicht als Angriff betrachtet wird. Darin liegt die wahre rechtliche Natur der Erscheinung, die wir da vor uns haben. Nach diesem Maſsstabe ergiebt sich auch mit Sicherheit die Abgrenzung aller einzelnen Fälle von Hinterziehung, die, obwohl äuſserlich die Merkmale des Betruges an sich tragend, doch nicht als Betrug behandelt werden. Ein derartiges Anders- rechnen eines einzelnen Begriffselementes ist ja auch auf anderen Ge- bieten keine unbekannte Rechtsfigur 29. Daſs sie gerade hier zur Geltung gekommen ist, darf man nicht so ohne weiteres als eine Lax- heit des sittlichen Gefühls verdammen. Im Gegenteil: es kommt darin sehr wohl der Unterschied zum Ausdruck zwischen der rein menschlichen Sittlichkeit, deren Verletzung das Betrugsrecht ahnden soll, und den künstlichen Pflichten und Beschränkungen, welche eine strebsame Finanzverwaltung von einer allezeit willigen Gesetzgebung zu ihren Gunsten aufstellen läſst. 29 Ein Seitenstück dazu hat Jhering, Zweck im Rechte II S. 260 ff., in der Lehre vom propulsiven und kompulsiven Zwang zur Darstellung gebracht. Ersterer, der Angriff, ist, wie er ausführt, dem Einzelnen nicht gestattet. Es kann aber vor- kommen, daſs in gewissen Beziehungen eine Handlung noch als kompulsiver Zwang gerechnet wird, die ihrer Form nach propulsiver Zwang, Angriff wäre. Abwehr eines Angriffes auf meinen Besitz ist kompulsiv. Wiederabnahme des gewaltsam entzogenen Besitzes propulsiv; für die Besitzklage jedoch wird das letztere noch als kompulsiv, mithin als erlaubt behandelt. Das ist ganz unser Fall.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/482>, abgerufen am 22.07.2024.