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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Die Finanzgewalt.

Nichts desto weniger wird in solchen Fällen ein Betrug nicht an-
genommen. Die gemeine Volksüberzeugung sieht es nicht dafür an
und auch die Gerichte erklären die Sache mit der Verhängung der
Defraudationsstrafen für erledigt und weigern sich auf Betrug zu er-
kennen20.

Die juristische Rechtfertigung hat man in verschiedener Weise
zu geben gesucht.

Man hat behauptet: das Finanzstrafrecht bilde ein eignes Rechts-
gebiet für sich, so dass es die Anwendbarkeit des gemeinen Straf-
rechts überall ausschliesse; selbst da, wo es eine Lücke zeigt, trete das
gemeine Strafrecht nicht ein, geschweige denn wo seine eignen Straf-
setzungen wirklich zutreffen21. Allein eine derartige Einschränkung
des natürlichen Herrschaftskreises des gemeinen Strafrechts versteht
sich nicht von selbst; da kein Gesetz sie ausspricht, fällt diese Er-
klärungsweise dahin.

Eine andere Meinung, welche in unserer Rechtsprechung über-
wiegend vertreten wird, legt alles Gewicht darauf, ob das Steuergesetz
eines bestimmten Thatbestandes sich vollständig bemächtigt hat, um
ihn mit seinen Finanzstrafen zu bedrohen. Insoweit wenigstens soll
denn auch gemäss dem Vorbehalt des E.G. z. Stf.G.B. § 2 Abs. 2
die Anwendbarkeit des § 263 Stf.G.B. ausgeschlossen sein. Allein
dieser Vorbehalt setzt gerade voraus, dass es sich um eine "besondere
Materie" handle im Gegensatz zu den im Strafgesetzbuche behandelten
und betroffenen und die Erklärung ist also damit nicht erspart, wes-
halb der Thatbestand der Defraudation von § 263 Stf.G.B. nicht ge-
troffen wird22.

20 Escher, Lehre v. strafb. Betrug S. 235; Meisel in Finanz-Arch. V
S. 57 ff.; Schwaiger in Gerichtssaal 49 S. 401 ff. Mit dieser Beobachtung ver-
mengt man gern die alte Klage über die Ansicht, "dass Übertretung der Zollgesetze
kein Unrecht sei", und deshalb mangelnde "Steuermoral"; Mittermaier in Arch.
f. Krim.R. 1836 S. 329; Eglauer, Östr. SteuerStf.R. S. 14 ff. Es handelt sich
aber um eine Rechtsauffassung unserer ganz unverdächtigen Gerichte, die doch das
Unrecht der Hinterziehung bereitwilligst mit den härtesten Strafen ahnden; nur ob
gerade der Rechtsbegriff des Betrugs zutreffe, ist die Frage. Das kann sine ira
ac studio erörtert werden; alle Wünsche wegen Verbesserung des Gemeinsinns
bleiben daneben vorbehalten.
21 Kindervater in Goltdammer Arch. 26 S. 309 ff. In diesem Sinne auch
R.G. 26. Juni 1880 (Samml. Stf.S. II S. 114).
22 Olshausen, Stf.G.B. II S. 1076 (Abschn. 22 n. 3 a); R.G. 4. April
1881 (Samml. Stf.S. III S. 193); dasselbe 13. Juli 1886 (Samml. Stf.S. VIV S.293); O.Tr.
28. Sept. 1878; -- Riedel (Proebst), Bayr. Pol.Stf.G.B. S. 9, verlangt von den vor-
behaltenen Strafbestimmungen eine andere "specifische Natur ihres Gegenstandes".
Die Finanzgewalt.

Nichts desto weniger wird in solchen Fällen ein Betrug nicht an-
genommen. Die gemeine Volksüberzeugung sieht es nicht dafür an
und auch die Gerichte erklären die Sache mit der Verhängung der
Defraudationsstrafen für erledigt und weigern sich auf Betrug zu er-
kennen20.

Die juristische Rechtfertigung hat man in verschiedener Weise
zu geben gesucht.

Man hat behauptet: das Finanzstrafrecht bilde ein eignes Rechts-
gebiet für sich, so daſs es die Anwendbarkeit des gemeinen Straf-
rechts überall ausschlieſse; selbst da, wo es eine Lücke zeigt, trete das
gemeine Strafrecht nicht ein, geschweige denn wo seine eignen Straf-
setzungen wirklich zutreffen21. Allein eine derartige Einschränkung
des natürlichen Herrschaftskreises des gemeinen Strafrechts versteht
sich nicht von selbst; da kein Gesetz sie ausspricht, fällt diese Er-
klärungsweise dahin.

Eine andere Meinung, welche in unserer Rechtsprechung über-
wiegend vertreten wird, legt alles Gewicht darauf, ob das Steuergesetz
eines bestimmten Thatbestandes sich vollständig bemächtigt hat, um
ihn mit seinen Finanzstrafen zu bedrohen. Insoweit wenigstens soll
denn auch gemäſs dem Vorbehalt des E.G. z. Stf.G.B. § 2 Abs. 2
die Anwendbarkeit des § 263 Stf.G.B. ausgeschlossen sein. Allein
dieser Vorbehalt setzt gerade voraus, daſs es sich um eine „besondere
Materie“ handle im Gegensatz zu den im Strafgesetzbuche behandelten
und betroffenen und die Erklärung ist also damit nicht erspart, wes-
halb der Thatbestand der Defraudation von § 263 Stf.G.B. nicht ge-
troffen wird22.

20 Escher, Lehre v. strafb. Betrug S. 235; Meisel in Finanz-Arch. V
S. 57 ff.; Schwaiger in Gerichtssaal 49 S. 401 ff. Mit dieser Beobachtung ver-
mengt man gern die alte Klage über die Ansicht, „daſs Übertretung der Zollgesetze
kein Unrecht sei“, und deshalb mangelnde „Steuermoral“; Mittermaier in Arch.
f. Krim.R. 1836 S. 329; Eglauer, Östr. SteuerStf.R. S. 14 ff. Es handelt sich
aber um eine Rechtsauffassung unserer ganz unverdächtigen Gerichte, die doch das
Unrecht der Hinterziehung bereitwilligst mit den härtesten Strafen ahnden; nur ob
gerade der Rechtsbegriff des Betrugs zutreffe, ist die Frage. Das kann sine ira
ac studio erörtert werden; alle Wünsche wegen Verbesserung des Gemeinsinns
bleiben daneben vorbehalten.
21 Kindervater in Goltdammer Arch. 26 S. 309 ff. In diesem Sinne auch
R.G. 26. Juni 1880 (Samml. Stf.S. II S. 114).
22 Olshausen, Stf.G.B. II S. 1076 (Abschn. 22 n. 3 a); R.G. 4. April
1881 (Samml. Stf.S. III S. 193); dasselbe 13. Juli 1886 (Samml. Stf.S. VIV S.293); O.Tr.
28. Sept. 1878; — Riedel (Proebst), Bayr. Pol.Stf.G.B. S. 9, verlangt von den vor-
behaltenen Strafbestimmungen eine andere „specifische Natur ihres Gegenstandes“.
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[458/0478] Die Finanzgewalt. Nichts desto weniger wird in solchen Fällen ein Betrug nicht an- genommen. Die gemeine Volksüberzeugung sieht es nicht dafür an und auch die Gerichte erklären die Sache mit der Verhängung der Defraudationsstrafen für erledigt und weigern sich auf Betrug zu er- kennen 20. Die juristische Rechtfertigung hat man in verschiedener Weise zu geben gesucht. Man hat behauptet: das Finanzstrafrecht bilde ein eignes Rechts- gebiet für sich, so daſs es die Anwendbarkeit des gemeinen Straf- rechts überall ausschlieſse; selbst da, wo es eine Lücke zeigt, trete das gemeine Strafrecht nicht ein, geschweige denn wo seine eignen Straf- setzungen wirklich zutreffen 21. Allein eine derartige Einschränkung des natürlichen Herrschaftskreises des gemeinen Strafrechts versteht sich nicht von selbst; da kein Gesetz sie ausspricht, fällt diese Er- klärungsweise dahin. Eine andere Meinung, welche in unserer Rechtsprechung über- wiegend vertreten wird, legt alles Gewicht darauf, ob das Steuergesetz eines bestimmten Thatbestandes sich vollständig bemächtigt hat, um ihn mit seinen Finanzstrafen zu bedrohen. Insoweit wenigstens soll denn auch gemäſs dem Vorbehalt des E.G. z. Stf.G.B. § 2 Abs. 2 die Anwendbarkeit des § 263 Stf.G.B. ausgeschlossen sein. Allein dieser Vorbehalt setzt gerade voraus, daſs es sich um eine „besondere Materie“ handle im Gegensatz zu den im Strafgesetzbuche behandelten und betroffenen und die Erklärung ist also damit nicht erspart, wes- halb der Thatbestand der Defraudation von § 263 Stf.G.B. nicht ge- troffen wird 22. 20 Escher, Lehre v. strafb. Betrug S. 235; Meisel in Finanz-Arch. V S. 57 ff.; Schwaiger in Gerichtssaal 49 S. 401 ff. Mit dieser Beobachtung ver- mengt man gern die alte Klage über die Ansicht, „daſs Übertretung der Zollgesetze kein Unrecht sei“, und deshalb mangelnde „Steuermoral“; Mittermaier in Arch. f. Krim.R. 1836 S. 329; Eglauer, Östr. SteuerStf.R. S. 14 ff. Es handelt sich aber um eine Rechtsauffassung unserer ganz unverdächtigen Gerichte, die doch das Unrecht der Hinterziehung bereitwilligst mit den härtesten Strafen ahnden; nur ob gerade der Rechtsbegriff des Betrugs zutreffe, ist die Frage. Das kann sine ira ac studio erörtert werden; alle Wünsche wegen Verbesserung des Gemeinsinns bleiben daneben vorbehalten. 21 Kindervater in Goltdammer Arch. 26 S. 309 ff. In diesem Sinne auch R.G. 26. Juni 1880 (Samml. Stf.S. II S. 114). 22 Olshausen, Stf.G.B. II S. 1076 (Abschn. 22 n. 3 a); R.G. 4. April 1881 (Samml. Stf.S. III S. 193); dasselbe 13. Juli 1886 (Samml. Stf.S. VIV S.293); O.Tr. 28. Sept. 1878; — Riedel (Proebst), Bayr. Pol.Stf.G.B. S. 9, verlangt von den vor- behaltenen Strafbestimmungen eine andere „specifische Natur ihres Gegenstandes“.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/478>, abgerufen am 23.12.2024.