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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 19. Grenzen der Polizeigewalt.
guten Ordnung des Gemeinwesens anzusehen. Auch hier gehört gerade
zur guten Ordnung des Gemeinwesens die Anerkennung eines Stückes
Freiheit. Und zwar kommt diese gesellschaftliche Freiheit
in doppelter Weise in Betracht, als freie Bewegung und als freie
Verfügung
.

Im Zusammenleben der Menschen ist jedes Einzeldasein not-
wendig von gewissen Schädlichkeiten für das Gemeinwesen begleitet
die ihm nicht genommen werden können, ohne es zu vernichten. Den
Nebenmenschen werden zahllose Belästigungen und Benachteiligungen
zugefügt, welche sich gar nicht oder nur mit unverhältnismässigem
Kostenaufwande vermeiden und beseitigen liessen. Der Schade
wäre grösser für das Gemeinwesen, wenn diese Lebensthätigkeit gänz-
lich unterbleiben müsste, als wenn es sich in solche notwendige
Störungen
fügt. Die Unterlassung derselben wird deshalb nicht
als gesellschaftliche Pflicht der Einzelnen angesehen und folglich ge-
hört auch das Einschreiten dagegen nicht zu den natürlichen Befug-
nissen der Polizeigewalt. Derselbe Gedanke, welcher auf dem Gebiete
des Civilrechts das Eigentum von selbst, in naturrechtlicher Weise,
beschränkt zu Gunsten gewisser unvermeidlicher nachbarlicher Be-
lästigungen, macht auch das Publikum bis zu einem gewissen Grade
schutzlos und scheidet gegenüber der Polizeigewalt ein Gebiet aus,
welches den Mindestsatz gesellschaftlicher freier Bewegung vorstellt3.

3 O.V.G. 10. Dez. 1879: "vor blossen Störungen und Belästigungen ist das
Publikum nicht zu schützen". Es handelte sich um den Lärm eines Schiessstandes.
Der angeführte Satz ist in dieser Allgemeinheit falsch. Das Publikum wird aller-
dings auch vor ruhestörendem Lärm geschützt, aber eben nur soweit der Lärm
nicht gemacht wird innerhalb des anerkannten Masses der gesellschaftlichen Frei-
heit, "in Wahrnehmung berechtigter Interessen". Richtig: O.V.G. 25. Juni 1888:
Musikaufführungen können nicht ohne weiteres wegen Belästigung des Publikums
verboten werden; ein polizeiliches Einschreiten könnte nur erfolgen unter dem Ge-
sichtspunkte des § 360, 10 St.G.B., also nur wenn dadurch "ungebührlicherweise"
ruhestörender Lärm verursacht wurde. -- O.V.G. 18. Sept. 1884 erklärt es für un-
zulässig, gegen eine Bäckeresse polizeilich vorzugehen, weil sie die Nachbarschaft
durch Rauchflocken belästigt; nur Gefahren für Leben und Gesundheit seien
nach A.L.R. II, 10 § 17 abzuwehren. Das ist nicht der wahre Grund: wenn es
nicht den Bäcker kraft der gesellschaftlichen Freiheit für berechtigt angesehen
hätte, seine Mitmenschen so zu belästigen, wäre es dem Gerichte ein leichtes ge-
wesen, die Rauchflocken unter irgend eine Gefahr der Gesundheit, der Ordnung
oder der Ruhe unterzubringen. -- Das Sächs. Ministerium d. I. hat mit Verord.
v. 30. Mai 1880 das Verfahren gegen eine Schmiedeesse missbilligt, da nur der
Nachbar klagte. Dagegen wurde von ihm eine Bäckeresse polizeilich behandelt,
"weil der Zustand wiederholt zu Klagen des grösseren Publikums Veranlassung
gegeben" (Sächs. Ztschft. f. Pr. I S. 279). Hier lag also wohl ein Übermass der

§ 19. Grenzen der Polizeigewalt.
guten Ordnung des Gemeinwesens anzusehen. Auch hier gehört gerade
zur guten Ordnung des Gemeinwesens die Anerkennung eines Stückes
Freiheit. Und zwar kommt diese gesellschaftliche Freiheit
in doppelter Weise in Betracht, als freie Bewegung und als freie
Verfügung
.

Im Zusammenleben der Menschen ist jedes Einzeldasein not-
wendig von gewissen Schädlichkeiten für das Gemeinwesen begleitet
die ihm nicht genommen werden können, ohne es zu vernichten. Den
Nebenmenschen werden zahllose Belästigungen und Benachteiligungen
zugefügt, welche sich gar nicht oder nur mit unverhältnismäſsigem
Kostenaufwande vermeiden und beseitigen lieſsen. Der Schade
wäre gröſser für das Gemeinwesen, wenn diese Lebensthätigkeit gänz-
lich unterbleiben müſste, als wenn es sich in solche notwendige
Störungen
fügt. Die Unterlassung derselben wird deshalb nicht
als gesellschaftliche Pflicht der Einzelnen angesehen und folglich ge-
hört auch das Einschreiten dagegen nicht zu den natürlichen Befug-
nissen der Polizeigewalt. Derselbe Gedanke, welcher auf dem Gebiete
des Civilrechts das Eigentum von selbst, in naturrechtlicher Weise,
beschränkt zu Gunsten gewisser unvermeidlicher nachbarlicher Be-
lästigungen, macht auch das Publikum bis zu einem gewissen Grade
schutzlos und scheidet gegenüber der Polizeigewalt ein Gebiet aus,
welches den Mindestsatz gesellschaftlicher freier Bewegung vorstellt3.

3 O.V.G. 10. Dez. 1879: „vor bloſsen Störungen und Belästigungen ist das
Publikum nicht zu schützen“. Es handelte sich um den Lärm eines Schieſsstandes.
Der angeführte Satz ist in dieser Allgemeinheit falsch. Das Publikum wird aller-
dings auch vor ruhestörendem Lärm geschützt, aber eben nur soweit der Lärm
nicht gemacht wird innerhalb des anerkannten Maſses der gesellschaftlichen Frei-
heit, „in Wahrnehmung berechtigter Interessen“. Richtig: O.V.G. 25. Juni 1888:
Musikaufführungen können nicht ohne weiteres wegen Belästigung des Publikums
verboten werden; ein polizeiliches Einschreiten könnte nur erfolgen unter dem Ge-
sichtspunkte des § 360, 10 St.G.B., also nur wenn dadurch „ungebührlicherweise“
ruhestörender Lärm verursacht wurde. — O.V.G. 18. Sept. 1884 erklärt es für un-
zulässig, gegen eine Bäckeresse polizeilich vorzugehen, weil sie die Nachbarschaft
durch Rauchflocken belästigt; nur Gefahren für Leben und Gesundheit seien
nach A.L.R. II, 10 § 17 abzuwehren. Das ist nicht der wahre Grund: wenn es
nicht den Bäcker kraft der gesellschaftlichen Freiheit für berechtigt angesehen
hätte, seine Mitmenschen so zu belästigen, wäre es dem Gerichte ein leichtes ge-
wesen, die Rauchflocken unter irgend eine Gefahr der Gesundheit, der Ordnung
oder der Ruhe unterzubringen. — Das Sächs. Ministerium d. I. hat mit Verord.
v. 30. Mai 1880 das Verfahren gegen eine Schmiedeesse miſsbilligt, da nur der
Nachbar klagte. Dagegen wurde von ihm eine Bäckeresse polizeilich behandelt,
„weil der Zustand wiederholt zu Klagen des gröſseren Publikums Veranlassung
gegeben“ (Sächs. Ztschft. f. Pr. I S. 279). Hier lag also wohl ein Übermaſs der
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[261/0281] § 19. Grenzen der Polizeigewalt. guten Ordnung des Gemeinwesens anzusehen. Auch hier gehört gerade zur guten Ordnung des Gemeinwesens die Anerkennung eines Stückes Freiheit. Und zwar kommt diese gesellschaftliche Freiheit in doppelter Weise in Betracht, als freie Bewegung und als freie Verfügung. Im Zusammenleben der Menschen ist jedes Einzeldasein not- wendig von gewissen Schädlichkeiten für das Gemeinwesen begleitet die ihm nicht genommen werden können, ohne es zu vernichten. Den Nebenmenschen werden zahllose Belästigungen und Benachteiligungen zugefügt, welche sich gar nicht oder nur mit unverhältnismäſsigem Kostenaufwande vermeiden und beseitigen lieſsen. Der Schade wäre gröſser für das Gemeinwesen, wenn diese Lebensthätigkeit gänz- lich unterbleiben müſste, als wenn es sich in solche notwendige Störungen fügt. Die Unterlassung derselben wird deshalb nicht als gesellschaftliche Pflicht der Einzelnen angesehen und folglich ge- hört auch das Einschreiten dagegen nicht zu den natürlichen Befug- nissen der Polizeigewalt. Derselbe Gedanke, welcher auf dem Gebiete des Civilrechts das Eigentum von selbst, in naturrechtlicher Weise, beschränkt zu Gunsten gewisser unvermeidlicher nachbarlicher Be- lästigungen, macht auch das Publikum bis zu einem gewissen Grade schutzlos und scheidet gegenüber der Polizeigewalt ein Gebiet aus, welches den Mindestsatz gesellschaftlicher freier Bewegung vorstellt 3. 3 O.V.G. 10. Dez. 1879: „vor bloſsen Störungen und Belästigungen ist das Publikum nicht zu schützen“. Es handelte sich um den Lärm eines Schieſsstandes. Der angeführte Satz ist in dieser Allgemeinheit falsch. Das Publikum wird aller- dings auch vor ruhestörendem Lärm geschützt, aber eben nur soweit der Lärm nicht gemacht wird innerhalb des anerkannten Maſses der gesellschaftlichen Frei- heit, „in Wahrnehmung berechtigter Interessen“. Richtig: O.V.G. 25. Juni 1888: Musikaufführungen können nicht ohne weiteres wegen Belästigung des Publikums verboten werden; ein polizeiliches Einschreiten könnte nur erfolgen unter dem Ge- sichtspunkte des § 360, 10 St.G.B., also nur wenn dadurch „ungebührlicherweise“ ruhestörender Lärm verursacht wurde. — O.V.G. 18. Sept. 1884 erklärt es für un- zulässig, gegen eine Bäckeresse polizeilich vorzugehen, weil sie die Nachbarschaft durch Rauchflocken belästigt; nur Gefahren für Leben und Gesundheit seien nach A.L.R. II, 10 § 17 abzuwehren. Das ist nicht der wahre Grund: wenn es nicht den Bäcker kraft der gesellschaftlichen Freiheit für berechtigt angesehen hätte, seine Mitmenschen so zu belästigen, wäre es dem Gerichte ein leichtes ge- wesen, die Rauchflocken unter irgend eine Gefahr der Gesundheit, der Ordnung oder der Ruhe unterzubringen. — Das Sächs. Ministerium d. I. hat mit Verord. v. 30. Mai 1880 das Verfahren gegen eine Schmiedeesse miſsbilligt, da nur der Nachbar klagte. Dagegen wurde von ihm eine Bäckeresse polizeilich behandelt, „weil der Zustand wiederholt zu Klagen des gröſseren Publikums Veranlassung gegeben“ (Sächs. Ztschft. f. Pr. I S. 279). Hier lag also wohl ein Übermaſs der

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/281>, abgerufen am 28.11.2024.