Zeit aber stand sie eilig auf und lief einer sich nahenden Person entgegen. Ich hörte vor der Hütte ein leises Geflüster, und dann verdunkelte sich der Eingang, um die "Perle" einzulassen.
Gleich der erste Blick auf die Eingetretene sagte mir, daß der Name Ingdscha hier ganz an seinem Platze sei. Das Mädchen mochte neunzehn Jahre zählen, war hoch gebaut und von so kräftigen Körperformen, daß sie ohne Bedenken die Frau eines Flügelmannes aus der alten, preußischen Riesengarde hätte werden können. Dennoch war das Gesicht ein mädchenhaft weiches und hatte jetzt, dem Fremden gegenüber, sogar einen sehr bemerkbaren Anflug von Schüchternheit.
"Sallam, Emir!" grüßte sie mit fast leiser Stimme.
"Sallam!" antwortete ich. "Du bist Ingdscha, die Tochter des Rais von Schohrd?"
"Ja, Herr."
"Verzeihe, daß ich mich nicht erhebe, um dich zu be- grüßen. Ich bin an diesen Pfahl gebunden."
"Ich denke, Madana hat dich einstweilen frei gemacht?"
"Nur die Hände."
"Warum nicht auch das übrige?"
Sie bog sich sofort zu mir nieder, um mir die Stricke zu lösen, ich aber wehrte ab:
"Ich danke dir, du Gute! Aber ich bitte dich den- noch, es nicht zu thun, da wir zu lange Zeit brauchen, um mich wieder zu binden, wenn jemand kommt."
"Madana hat mir alles erzählt," erwiderte sie. "Herr, ich werde nicht leiden, daß du hier am Boden liegst, du, ein Emir aus dem Abendlande, der alle Län- der der Erde bereist, um Abenteuer zu erleben!"
Aha, das waren die Folgen von der Aufschneiderei meines kleinen Hadschi Halef Omar. Das Mädchen hielt
Zeit aber ſtand ſie eilig auf und lief einer ſich nahenden Perſon entgegen. Ich hörte vor der Hütte ein leiſes Geflüſter, und dann verdunkelte ſich der Eingang, um die „Perle“ einzulaſſen.
Gleich der erſte Blick auf die Eingetretene ſagte mir, daß der Name Ingdſcha hier ganz an ſeinem Platze ſei. Das Mädchen mochte neunzehn Jahre zählen, war hoch gebaut und von ſo kräftigen Körperformen, daß ſie ohne Bedenken die Frau eines Flügelmannes aus der alten, preußiſchen Rieſengarde hätte werden können. Dennoch war das Geſicht ein mädchenhaft weiches und hatte jetzt, dem Fremden gegenüber, ſogar einen ſehr bemerkbaren Anflug von Schüchternheit.
„Sallam, Emir!“ grüßte ſie mit faſt leiſer Stimme.
„Sallam!“ antwortete ich. „Du biſt Ingdſcha, die Tochter des Raïs von Schohrd?“
„Ja, Herr.“
„Verzeihe, daß ich mich nicht erhebe, um dich zu be- grüßen. Ich bin an dieſen Pfahl gebunden.“
„Ich denke, Madana hat dich einſtweilen frei gemacht?“
„Nur die Hände.“
„Warum nicht auch das übrige?“
Sie bog ſich ſofort zu mir nieder, um mir die Stricke zu löſen, ich aber wehrte ab:
„Ich danke dir, du Gute! Aber ich bitte dich den- noch, es nicht zu thun, da wir zu lange Zeit brauchen, um mich wieder zu binden, wenn jemand kommt.“
„Madana hat mir alles erzählt,“ erwiderte ſie. „Herr, ich werde nicht leiden, daß du hier am Boden liegſt, du, ein Emir aus dem Abendlande, der alle Län- der der Erde bereiſt, um Abenteuer zu erleben!“
Aha, das waren die Folgen von der Aufſchneiderei meines kleinen Hadſchi Halef Omar. Das Mädchen hielt
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Zeit aber ſtand ſie eilig auf und lief einer ſich nahenden
Perſon entgegen. Ich hörte vor der Hütte ein leiſes
Geflüſter, und dann verdunkelte ſich der Eingang, um die
„Perle“ einzulaſſen.
Gleich der erſte Blick auf die Eingetretene ſagte mir,
daß der Name Ingdſcha hier ganz an ſeinem Platze ſei.
Das Mädchen mochte neunzehn Jahre zählen, war hoch
gebaut und von ſo kräftigen Körperformen, daß ſie ohne
Bedenken die Frau eines Flügelmannes aus der alten,
preußiſchen Rieſengarde hätte werden können. Dennoch
war das Geſicht ein mädchenhaft weiches und hatte jetzt,
dem Fremden gegenüber, ſogar einen ſehr bemerkbaren
Anflug von Schüchternheit.
„Sallam, Emir!“ grüßte ſie mit faſt leiſer Stimme.
„Sallam!“ antwortete ich. „Du biſt Ingdſcha, die
Tochter des Raïs von Schohrd?“
„Ja, Herr.“
„Verzeihe, daß ich mich nicht erhebe, um dich zu be-
grüßen. Ich bin an dieſen Pfahl gebunden.“
„Ich denke, Madana hat dich einſtweilen frei gemacht?“
„Nur die Hände.“
„Warum nicht auch das übrige?“
Sie bog ſich ſofort zu mir nieder, um mir die Stricke
zu löſen, ich aber wehrte ab:
„Ich danke dir, du Gute! Aber ich bitte dich den-
noch, es nicht zu thun, da wir zu lange Zeit brauchen,
um mich wieder zu binden, wenn jemand kommt.“
„Madana hat mir alles erzählt,“ erwiderte ſie.
„Herr, ich werde nicht leiden, daß du hier am Boden
liegſt, du, ein Emir aus dem Abendlande, der alle Län-
der der Erde bereiſt, um Abenteuer zu erleben!“
Aha, das waren die Folgen von der Aufſchneiderei
meines kleinen Hadſchi Halef Omar. Das Mädchen hielt
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/581>, abgerufen am 27.11.2024.
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