wenig. Ich könnte dir Dinge erzählen, bei denen dir das Herz brechen müßte. Siehst du die Brücke, auf welcher du über den Berdizabi *) gekommen bist? Ueber diese Brücke wurden unsere Jungfrauen geschleppt, um nach Tkhoma und Baz geführt zu werden; sie aber sprangen hinab in das Wasser, um lieber zu sterben. Keine einzige blieb zurück. Siehst du den Berg mit seiner Felsenmauer dort zur Rechten? Dort hinauf hatten sich die Leute von Lizan gerettet, weil sie sich dort sicher glaubten, denn sie konnten von unten gar nicht angegriffen werden. Aber sie hatten nur wenig Speise und Wasser bei sich. Um nicht zu verhungern, mußten sie sich Beder-Khan-Bey er- geben. Er versprach ihnen mit seinem heiligsten Eid die Freiheit und das Leben; nur die Waffen sollten sie ab- liefern. Dies geschah; er aber brach seinen Schwur und ließ sie mit Säbel und Messer ermorden. Und als den Kurden von dieser blutigen Arbeit die Arme weh thaten, da machten sie es sich leichter: sie stürzten die Christen von der neunhundert Fuß hohen Felsenwand herab: Greise, Männer, Frauen und Kinder. Von mehr als tausend Chaldani entkam nur ein einziger, um zu erzählen, was da oben geschehen war. Soll ich dir noch mehr erzählen, Chodih?"
"Halte ein!" wehrte ich schaudernd ab.
"Und nun sitzt der Sohn eines dieser Ungeheuer hier im Hause des Melek von Lizan. Glaubst du, daß er Gnade finden wird?"
Wie mußte es bei diesen Worten dem Bey von Gumri zu Mute sein! Er zuckte mit keiner Wimper; er war zu stolz, um sich zu verteidigen. Ich aber antwortete:
"Er wird Gnade finden!"
"Glaubst du dies wirklich?"
*) Der obere Zab.
wenig. Ich könnte dir Dinge erzählen, bei denen dir das Herz brechen müßte. Siehſt du die Brücke, auf welcher du über den Berdizabi *) gekommen biſt? Ueber dieſe Brücke wurden unſere Jungfrauen geſchleppt, um nach Tkhoma und Baz geführt zu werden; ſie aber ſprangen hinab in das Waſſer, um lieber zu ſterben. Keine einzige blieb zurück. Siehſt du den Berg mit ſeiner Felſenmauer dort zur Rechten? Dort hinauf hatten ſich die Leute von Lizan gerettet, weil ſie ſich dort ſicher glaubten, denn ſie konnten von unten gar nicht angegriffen werden. Aber ſie hatten nur wenig Speiſe und Waſſer bei ſich. Um nicht zu verhungern, mußten ſie ſich Beder-Khan-Bey er- geben. Er verſprach ihnen mit ſeinem heiligſten Eid die Freiheit und das Leben; nur die Waffen ſollten ſie ab- liefern. Dies geſchah; er aber brach ſeinen Schwur und ließ ſie mit Säbel und Meſſer ermorden. Und als den Kurden von dieſer blutigen Arbeit die Arme weh thaten, da machten ſie es ſich leichter: ſie ſtürzten die Chriſten von der neunhundert Fuß hohen Felſenwand herab: Greiſe, Männer, Frauen und Kinder. Von mehr als tauſend Chaldani entkam nur ein einziger, um zu erzählen, was da oben geſchehen war. Soll ich dir noch mehr erzählen, Chodih?“
„Halte ein!“ wehrte ich ſchaudernd ab.
„Und nun ſitzt der Sohn eines dieſer Ungeheuer hier im Hauſe des Melek von Lizan. Glaubſt du, daß er Gnade finden wird?“
Wie mußte es bei dieſen Worten dem Bey von Gumri zu Mute ſein! Er zuckte mit keiner Wimper; er war zu ſtolz, um ſich zu verteidigen. Ich aber antwortete:
„Er wird Gnade finden!“
„Glaubſt du dies wirklich?“
*) Der obere Zab.
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wenig. Ich könnte dir Dinge erzählen, bei denen dir das
Herz brechen müßte. Siehſt du die Brücke, auf welcher
du über den Berdizabi *) gekommen biſt? Ueber dieſe
Brücke wurden unſere Jungfrauen geſchleppt, um nach
Tkhoma und Baz geführt zu werden; ſie aber ſprangen
hinab in das Waſſer, um lieber zu ſterben. Keine einzige
blieb zurück. Siehſt du den Berg mit ſeiner Felſenmauer
dort zur Rechten? Dort hinauf hatten ſich die Leute von
Lizan gerettet, weil ſie ſich dort ſicher glaubten, denn ſie
konnten von unten gar nicht angegriffen werden. Aber
ſie hatten nur wenig Speiſe und Waſſer bei ſich. Um
nicht zu verhungern, mußten ſie ſich Beder-Khan-Bey er-
geben. Er verſprach ihnen mit ſeinem heiligſten Eid die
Freiheit und das Leben; nur die Waffen ſollten ſie ab-
liefern. Dies geſchah; er aber brach ſeinen Schwur und
ließ ſie mit Säbel und Meſſer ermorden. Und als den
Kurden von dieſer blutigen Arbeit die Arme weh thaten,
da machten ſie es ſich leichter: ſie ſtürzten die Chriſten
von der neunhundert Fuß hohen Felſenwand herab: Greiſe,
Männer, Frauen und Kinder. Von mehr als tauſend
Chaldani entkam nur ein einziger, um zu erzählen, was
da oben geſchehen war. Soll ich dir noch mehr erzählen,
Chodih?“
„Halte ein!“ wehrte ich ſchaudernd ab.
„Und nun ſitzt der Sohn eines dieſer Ungeheuer hier
im Hauſe des Melek von Lizan. Glaubſt du, daß er
Gnade finden wird?“
Wie mußte es bei dieſen Worten dem Bey von Gumri
zu Mute ſein! Er zuckte mit keiner Wimper; er war zu
ſtolz, um ſich zu verteidigen. Ich aber antwortete:
„Er wird Gnade finden!“
„Glaubſt du dies wirklich?“
*) Der obere Zab.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/532>, abgerufen am 23.12.2024.
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