Sollte ich es wagen? Es war wohl besser, alles auf einen Augenblick zu setzen, als uns noch stundenlang zu quälen. Ich drängte den Rappen hart an den Felsen hinan, damit er rückwärts die Platte überblicken könne. Dann -- gnädiger Gott, hilf! -- gab ich dem Tiere die Schenkel, zog es empor und riß es herum.
Einen Augenblick lang schwebten seine Vorderhufe über der Tiefe, dann faßten sie festen Fuß; die gefähr- liche Wendung war geglückt. Aber das Tier zitterte am ganzen Leib, und es dauerte einige Zeit, ehe ich es ohne Besorgnis weitergehen lassen konnte.
Nun aber war uns geholfen -- Gott sei Dank! Wir legten den gefährlichen Pfad schnell zurück, dann jedoch sah ich mich gezwungen, halten zu bleiben. In geringer Entfernung von mir stand der Melek mit vielleicht zwanzig seiner Leute. Alle hatten die Gewehre angelegt.
"Halt!" gebot er mir. "Sobald du eine Waffe er- greifst, werde ich schießen!"
Hier wäre Widerstand ein Frevel gewesen.
"Was willst du?" fragte ich.
"Steige ab!" lautete seine Antwort.
Ich that es.
"Lege deine Waffen ab!" gebot er weiter.
"Das thue ich nicht."
"So schießen wir dich nieder!"
"Schießt!"
Sie thaten es doch nicht, sondern besprachen sich leise. Dann sagte der Melek:
"Emir, du hast mein Leben geschont, ich möchte dich auch nicht töten. Willst du uns freiwillig folgen?"
"Wohin?"
"Nach Lizan."
"Ja, aber nur dann, wenn du mir läßt, was ich besitze."
Sollte ich es wagen? Es war wohl beſſer, alles auf einen Augenblick zu ſetzen, als uns noch ſtundenlang zu quälen. Ich drängte den Rappen hart an den Felſen hinan, damit er rückwärts die Platte überblicken könne. Dann — gnädiger Gott, hilf! — gab ich dem Tiere die Schenkel, zog es empor und riß es herum.
Einen Augenblick lang ſchwebten ſeine Vorderhufe über der Tiefe, dann faßten ſie feſten Fuß; die gefähr- liche Wendung war geglückt. Aber das Tier zitterte am ganzen Leib, und es dauerte einige Zeit, ehe ich es ohne Beſorgnis weitergehen laſſen konnte.
Nun aber war uns geholfen — Gott ſei Dank! Wir legten den gefährlichen Pfad ſchnell zurück, dann jedoch ſah ich mich gezwungen, halten zu bleiben. In geringer Entfernung von mir ſtand der Melek mit vielleicht zwanzig ſeiner Leute. Alle hatten die Gewehre angelegt.
„Halt!“ gebot er mir. „Sobald du eine Waffe er- greifſt, werde ich ſchießen!“
Hier wäre Widerſtand ein Frevel geweſen.
„Was willſt du?“ fragte ich.
„Steige ab!“ lautete ſeine Antwort.
Ich that es.
„Lege deine Waffen ab!“ gebot er weiter.
„Das thue ich nicht.“
„So ſchießen wir dich nieder!“
„Schießt!“
Sie thaten es doch nicht, ſondern beſprachen ſich leiſe. Dann ſagte der Melek:
„Emir, du haſt mein Leben geſchont, ich möchte dich auch nicht töten. Willſt du uns freiwillig folgen?“
„Wohin?“
„Nach Lizan.“
„Ja, aber nur dann, wenn du mir läßt, was ich beſitze.“
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Sollte ich es wagen? Es war wohl beſſer, alles auf
einen Augenblick zu ſetzen, als uns noch ſtundenlang
zu quälen. Ich drängte den Rappen hart an den Felſen
hinan, damit er rückwärts die Platte überblicken könne.
Dann — gnädiger Gott, hilf! — gab ich dem Tiere die
Schenkel, zog es empor und riß es herum.
Einen Augenblick lang ſchwebten ſeine Vorderhufe
über der Tiefe, dann faßten ſie feſten Fuß; die gefähr-
liche Wendung war geglückt. Aber das Tier zitterte am
ganzen Leib, und es dauerte einige Zeit, ehe ich es ohne
Beſorgnis weitergehen laſſen konnte.
Nun aber war uns geholfen — Gott ſei Dank! Wir
legten den gefährlichen Pfad ſchnell zurück, dann jedoch
ſah ich mich gezwungen, halten zu bleiben. In geringer
Entfernung von mir ſtand der Melek mit vielleicht zwanzig
ſeiner Leute. Alle hatten die Gewehre angelegt.
„Halt!“ gebot er mir. „Sobald du eine Waffe er-
greifſt, werde ich ſchießen!“
Hier wäre Widerſtand ein Frevel geweſen.
„Was willſt du?“ fragte ich.
„Steige ab!“ lautete ſeine Antwort.
Ich that es.
„Lege deine Waffen ab!“ gebot er weiter.
„Das thue ich nicht.“
„So ſchießen wir dich nieder!“
„Schießt!“
Sie thaten es doch nicht, ſondern beſprachen ſich leiſe.
Dann ſagte der Melek:
„Emir, du haſt mein Leben geſchont, ich möchte dich
auch nicht töten. Willſt du uns freiwillig folgen?“
„Wohin?“
„Nach Lizan.“
„Ja, aber nur dann, wenn du mir läßt, was ich beſitze.“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/502>, abgerufen am 23.12.2024.
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