Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Ihr bringt sie?" sagte er zu ihnen. "Kehrt wieder
auf euren Posten zurück!"

Man hatte ihm also unser Kommen bereits gemeldet,
als wir im Begriffe waren, ihnen ahnungslos in die
Hände zu laufen. Der Melek hatte einige Aehnlichkeit mit
seinem Bruder, aber meine Augen richteten sich von ihm
ab und auf eine andere Gruppe. Dort saßen der Bey von
Gumri, Amad el Ghandur und Halef nebst mehreren
Kurden unbewaffnet und rings von Wächtern umgeben;
aber keiner von ihnen war gebunden. Sie hatten die Geistes-
gegenwart, sich bei unserm Anblick ruhig zu verhalten.

Der Melek winkte uns, abzusteigen.

"Kommt näher!" gebot er.

Ich trat in den Kreis und setzte mich ungeniert neben
ihm nieder. Auch der Engländer that so. Der Anführer
blickte uns etwas überrascht an, sagte aber nichts über
unser dreistes Benehmen.

"Habt ihr euch bei eurem Ergreifen gewehrt?" fragte er.

"Nein," antwortete ich kurz.

"Ihr tragt doch Waffen!"

"Warum sollen wir die Chaldäer töten, da wir ihre
Freunde sind? Sie sind Christen, wie wir."

Er horchte auf und fragte dann:

"Ihr seid Christen? -- Aus welcher Stadt?"

"Die Stadt, aus der wir stammen, kennst du nicht.
Sie liegt weit von hier im Abendlande, wohin noch kein
Kurde gekommen ist."

"So seid ihr Franken? Vielleicht aus Inglistan?"

"Mein Gefährte stammt aus Inglistan. Ich aber
bin ein Nemtsche."

"Ich habe noch keinen Nemtsche gesehen. Wohnen sie
mit den Inglis in einem Lande?"

"Nein; es liegt ein Meer zwischen ihnen."

„Ihr bringt ſie?“ ſagte er zu ihnen. „Kehrt wieder
auf euren Poſten zurück!“

Man hatte ihm alſo unſer Kommen bereits gemeldet,
als wir im Begriffe waren, ihnen ahnungslos in die
Hände zu laufen. Der Melek hatte einige Aehnlichkeit mit
ſeinem Bruder, aber meine Augen richteten ſich von ihm
ab und auf eine andere Gruppe. Dort ſaßen der Bey von
Gumri, Amad el Ghandur und Halef nebſt mehreren
Kurden unbewaffnet und rings von Wächtern umgeben;
aber keiner von ihnen war gebunden. Sie hatten die Geiſtes-
gegenwart, ſich bei unſerm Anblick ruhig zu verhalten.

Der Melek winkte uns, abzuſteigen.

„Kommt näher!“ gebot er.

Ich trat in den Kreis und ſetzte mich ungeniert neben
ihm nieder. Auch der Engländer that ſo. Der Anführer
blickte uns etwas überraſcht an, ſagte aber nichts über
unſer dreiſtes Benehmen.

„Habt ihr euch bei eurem Ergreifen gewehrt?“ fragte er.

„Nein,“ antwortete ich kurz.

„Ihr tragt doch Waffen!“

„Warum ſollen wir die Chaldäer töten, da wir ihre
Freunde ſind? Sie ſind Chriſten, wie wir.“

Er horchte auf und fragte dann:

„Ihr ſeid Chriſten? — Aus welcher Stadt?“

„Die Stadt, aus der wir ſtammen, kennſt du nicht.
Sie liegt weit von hier im Abendlande, wohin noch kein
Kurde gekommen iſt.“

„So ſeid ihr Franken? Vielleicht aus Ingliſtan?“

„Mein Gefährte ſtammt aus Ingliſtan. Ich aber
bin ein Nemtſche.“

„Ich habe noch keinen Nemtſche geſehen. Wohnen ſie
mit den Inglis in einem Lande?“

„Nein; es liegt ein Meer zwiſchen ihnen.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0489" n="475"/>
        <p>&#x201E;Ihr bringt &#x017F;ie?&#x201C; &#x017F;agte er zu ihnen. &#x201E;Kehrt wieder<lb/>
auf euren Po&#x017F;ten zurück!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Man hatte ihm al&#x017F;o un&#x017F;er Kommen bereits gemeldet,<lb/>
als wir im Begriffe waren, ihnen ahnungslos in die<lb/>
Hände zu laufen. Der Melek hatte einige Aehnlichkeit mit<lb/>
&#x017F;einem Bruder, aber meine Augen richteten &#x017F;ich von ihm<lb/>
ab und auf eine andere Gruppe. Dort &#x017F;aßen der Bey von<lb/>
Gumri, Amad el Ghandur und Halef neb&#x017F;t mehreren<lb/>
Kurden unbewaffnet und rings von Wächtern umgeben;<lb/>
aber keiner von ihnen war gebunden. Sie hatten die Gei&#x017F;tes-<lb/>
gegenwart, &#x017F;ich bei un&#x017F;erm Anblick ruhig zu verhalten.</p><lb/>
        <p>Der Melek winkte uns, abzu&#x017F;teigen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Kommt näher!&#x201C; gebot er.</p><lb/>
        <p>Ich trat in den Kreis und &#x017F;etzte mich ungeniert neben<lb/>
ihm nieder. Auch der Engländer that &#x017F;o. Der Anführer<lb/>
blickte uns etwas überra&#x017F;cht an, &#x017F;agte aber nichts über<lb/>
un&#x017F;er drei&#x017F;tes Benehmen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Habt ihr euch bei eurem Ergreifen gewehrt?&#x201C; fragte er.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein,&#x201C; antwortete ich kurz.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ihr tragt doch Waffen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Warum &#x017F;ollen wir die Chaldäer töten, da wir ihre<lb/>
Freunde &#x017F;ind? Sie &#x017F;ind Chri&#x017F;ten, wie wir.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er horchte auf und fragte dann:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ihr &#x017F;eid Chri&#x017F;ten? &#x2014; Aus welcher Stadt?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Stadt, aus der wir &#x017F;tammen, kenn&#x017F;t du nicht.<lb/>
Sie liegt weit von hier im Abendlande, wohin noch kein<lb/>
Kurde gekommen i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;So &#x017F;eid ihr Franken? Vielleicht aus Ingli&#x017F;tan?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mein Gefährte &#x017F;tammt aus Ingli&#x017F;tan. Ich aber<lb/>
bin ein Nemt&#x017F;che.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich habe noch keinen Nemt&#x017F;che ge&#x017F;ehen. Wohnen &#x017F;ie<lb/>
mit den Inglis in einem Lande?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein; es liegt ein Meer zwi&#x017F;chen ihnen.&#x201C;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[475/0489] „Ihr bringt ſie?“ ſagte er zu ihnen. „Kehrt wieder auf euren Poſten zurück!“ Man hatte ihm alſo unſer Kommen bereits gemeldet, als wir im Begriffe waren, ihnen ahnungslos in die Hände zu laufen. Der Melek hatte einige Aehnlichkeit mit ſeinem Bruder, aber meine Augen richteten ſich von ihm ab und auf eine andere Gruppe. Dort ſaßen der Bey von Gumri, Amad el Ghandur und Halef nebſt mehreren Kurden unbewaffnet und rings von Wächtern umgeben; aber keiner von ihnen war gebunden. Sie hatten die Geiſtes- gegenwart, ſich bei unſerm Anblick ruhig zu verhalten. Der Melek winkte uns, abzuſteigen. „Kommt näher!“ gebot er. Ich trat in den Kreis und ſetzte mich ungeniert neben ihm nieder. Auch der Engländer that ſo. Der Anführer blickte uns etwas überraſcht an, ſagte aber nichts über unſer dreiſtes Benehmen. „Habt ihr euch bei eurem Ergreifen gewehrt?“ fragte er. „Nein,“ antwortete ich kurz. „Ihr tragt doch Waffen!“ „Warum ſollen wir die Chaldäer töten, da wir ihre Freunde ſind? Sie ſind Chriſten, wie wir.“ Er horchte auf und fragte dann: „Ihr ſeid Chriſten? — Aus welcher Stadt?“ „Die Stadt, aus der wir ſtammen, kennſt du nicht. Sie liegt weit von hier im Abendlande, wohin noch kein Kurde gekommen iſt.“ „So ſeid ihr Franken? Vielleicht aus Ingliſtan?“ „Mein Gefährte ſtammt aus Ingliſtan. Ich aber bin ein Nemtſche.“ „Ich habe noch keinen Nemtſche geſehen. Wohnen ſie mit den Inglis in einem Lande?“ „Nein; es liegt ein Meer zwiſchen ihnen.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/489
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/489>, abgerufen am 23.12.2024.