"Ich bin ein Nemtsche, und mein Gefährte ist ein Inglis."
"Die Nemtsche kenne ich nicht, aber die Inglis sind böse Menschen. Ich werde euch zum Melek führen, der über euch urteilen mag."
"Wo ist er?"
"Weiter unten. Wir sind die Vorhut und sahen euch kommen."
"Wir werden euch folgen. Laßt mich los!"
"Steige ab!"
"Erlaube mir, daß ich sitzen bleibe! Ich habe einen Fall gethan und kann nicht gut gehen."
"So mögt ihr reiten, und wir werden eure Pferde führen. Aber sobald ihr versucht, zu fliehen oder eure Waffen zu gebrauchen, werdet ihr erschossen!"
Das klang sehr bestimmt und kriegerisch. Diese Männer machten allerdings einen ganz andern Eindruck als die- jenigen, welche uns vorher gefangen genommen hatten. Wir wurden thalabwärts geführt. Mein Hund schritt, die Augen immer auf mich gerichtet, neben mir her; er hatte keinen der Feinde angegriffen, weil ich mich ruhig verhalten hatte.
Ein kleines Nebenwasser floß von rechts her in den Bach. Es kam aus einem Seitenthale, welches bei seiner Mündung in das Hauptthal eine ziemlich breite Einbuch- tung bildete. Hier lagerten wohl gegen sechshundert Krie- ger in vielen Gruppen beieinander, während ihre Pferde in der Umgebung weideten. Unser Erscheinen erregte Auf- sehen; aber niemand rief uns an.
Wir wurden zu einer der größten Gruppen geführt, in deren Mitte ein kräftig gebauter Mann saß, welcher unsern Begleitern zunickte.
„Woher ſeid ihr?“
„Ich bin ein Nemtſche, und mein Gefährte iſt ein Inglis.“
„Die Nemtſche kenne ich nicht, aber die Inglis ſind böſe Menſchen. Ich werde euch zum Melek führen, der über euch urteilen mag.“
„Wo iſt er?“
„Weiter unten. Wir ſind die Vorhut und ſahen euch kommen.“
„Wir werden euch folgen. Laßt mich los!“
„Steige ab!“
„Erlaube mir, daß ich ſitzen bleibe! Ich habe einen Fall gethan und kann nicht gut gehen.“
„So mögt ihr reiten, und wir werden eure Pferde führen. Aber ſobald ihr verſucht, zu fliehen oder eure Waffen zu gebrauchen, werdet ihr erſchoſſen!“
Das klang ſehr beſtimmt und kriegeriſch. Dieſe Männer machten allerdings einen ganz andern Eindruck als die- jenigen, welche uns vorher gefangen genommen hatten. Wir wurden thalabwärts geführt. Mein Hund ſchritt, die Augen immer auf mich gerichtet, neben mir her; er hatte keinen der Feinde angegriffen, weil ich mich ruhig verhalten hatte.
Ein kleines Nebenwaſſer floß von rechts her in den Bach. Es kam aus einem Seitenthale, welches bei ſeiner Mündung in das Hauptthal eine ziemlich breite Einbuch- tung bildete. Hier lagerten wohl gegen ſechshundert Krie- ger in vielen Gruppen beieinander, während ihre Pferde in der Umgebung weideten. Unſer Erſcheinen erregte Auf- ſehen; aber niemand rief uns an.
Wir wurden zu einer der größten Gruppen geführt, in deren Mitte ein kräftig gebauter Mann ſaß, welcher unſern Begleitern zunickte.
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„Woher ſeid ihr?“
„Ich bin ein Nemtſche, und mein Gefährte iſt ein
Inglis.“
„Die Nemtſche kenne ich nicht, aber die Inglis ſind
böſe Menſchen. Ich werde euch zum Melek führen, der
über euch urteilen mag.“
„Wo iſt er?“
„Weiter unten. Wir ſind die Vorhut und ſahen euch
kommen.“
„Wir werden euch folgen. Laßt mich los!“
„Steige ab!“
„Erlaube mir, daß ich ſitzen bleibe! Ich habe einen
Fall gethan und kann nicht gut gehen.“
„So mögt ihr reiten, und wir werden eure Pferde
führen. Aber ſobald ihr verſucht, zu fliehen oder eure
Waffen zu gebrauchen, werdet ihr erſchoſſen!“
Das klang ſehr beſtimmt und kriegeriſch. Dieſe Männer
machten allerdings einen ganz andern Eindruck als die-
jenigen, welche uns vorher gefangen genommen hatten.
Wir wurden thalabwärts geführt. Mein Hund ſchritt,
die Augen immer auf mich gerichtet, neben mir her;
er hatte keinen der Feinde angegriffen, weil ich mich ruhig
verhalten hatte.
Ein kleines Nebenwaſſer floß von rechts her in den
Bach. Es kam aus einem Seitenthale, welches bei ſeiner
Mündung in das Hauptthal eine ziemlich breite Einbuch-
tung bildete. Hier lagerten wohl gegen ſechshundert Krie-
ger in vielen Gruppen beieinander, während ihre Pferde
in der Umgebung weideten. Unſer Erſcheinen erregte Auf-
ſehen; aber niemand rief uns an.
Wir wurden zu einer der größten Gruppen geführt,
in deren Mitte ein kräftig gebauter Mann ſaß, welcher
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/488>, abgerufen am 22.11.2024.
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