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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Du kannst ruhig sein. Wenn er es ehrlich meint,
wird er sich bei uns in keiner Gefahr befinden."

Der Mann führte uns durch eine Thüre in ein Ge-
mach, in welchem der Besitzer des Hauses sich befand. Es
war ein schwacher, ältlicher Mann, dessen blatternarbiges
Gesicht auf mich keinen sehr angenehmen Eindruck machte.
Er winkte, und der Führer entfernte sich.

"Wer seid ihr?" fragte er, ohne uns zu begrüßen.

"Wer bist du?" fragte ich in ganz demselben kurzen
Tone wie er.

Er runzelte die Stirn.

"Ich bin der Bruder des Melek von Lizan."

"Und wir sind Gefangene des Melek von Lizan."

"Dein Benehmen ist nicht so, als ob du ein Ge-
fangener seist."

"Weil ich freiwillig ein Gefangener bin und sehr
genau weiß, daß ich es nicht lange bleiben werde."

"Freiwillig? Man hat dich doch gefangen genommen!"

"Und wir haben uns wieder frei gemacht und sind
euren Männern aus freiem Willen gefolgt, um nicht ge-
zwungen zu sein, ihnen das Leben zu nehmen. Ist das
dir nicht erzählt worden?"

"Ich glaube es nicht."

"Du wirst es glauben lernen."

"Du bist bei dem Bey von Gumri gewesen!" fuhr
er fort. "Wie kommst du zu diesem?"

"Ich hatte ihm Grüße von einem Verwandten aus-
zurichten."

"So bist du nicht ein Vasall von ihm?"

"Nein. Ich bin ein Fremdling in diesem Lande."

"Ein Christ, wie ich hörte?"

"Du hast die Wahrheit gehört."

"Aber ein Christ, der an die falsche Lehre glaubt!"

„Du kannſt ruhig ſein. Wenn er es ehrlich meint,
wird er ſich bei uns in keiner Gefahr befinden.“

Der Mann führte uns durch eine Thüre in ein Ge-
mach, in welchem der Beſitzer des Hauſes ſich befand. Es
war ein ſchwacher, ältlicher Mann, deſſen blatternarbiges
Geſicht auf mich keinen ſehr angenehmen Eindruck machte.
Er winkte, und der Führer entfernte ſich.

„Wer ſeid ihr?“ fragte er, ohne uns zu begrüßen.

„Wer biſt du?“ fragte ich in ganz demſelben kurzen
Tone wie er.

Er runzelte die Stirn.

„Ich bin der Bruder des Melek von Lizan.“

„Und wir ſind Gefangene des Melek von Lizan.“

„Dein Benehmen iſt nicht ſo, als ob du ein Ge-
fangener ſeiſt.“

„Weil ich freiwillig ein Gefangener bin und ſehr
genau weiß, daß ich es nicht lange bleiben werde.“

„Freiwillig? Man hat dich doch gefangen genommen!“

„Und wir haben uns wieder frei gemacht und ſind
euren Männern aus freiem Willen gefolgt, um nicht ge-
zwungen zu ſein, ihnen das Leben zu nehmen. Iſt das
dir nicht erzählt worden?“

„Ich glaube es nicht.“

„Du wirſt es glauben lernen.“

„Du biſt bei dem Bey von Gumri geweſen!“ fuhr
er fort. „Wie kommſt du zu dieſem?“

„Ich hatte ihm Grüße von einem Verwandten aus-
zurichten.“

„So biſt du nicht ein Vaſall von ihm?“

„Nein. Ich bin ein Fremdling in dieſem Lande.“

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„Du haſt die Wahrheit gehört.“

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[467/0481] „Du kannſt ruhig ſein. Wenn er es ehrlich meint, wird er ſich bei uns in keiner Gefahr befinden.“ Der Mann führte uns durch eine Thüre in ein Ge- mach, in welchem der Beſitzer des Hauſes ſich befand. Es war ein ſchwacher, ältlicher Mann, deſſen blatternarbiges Geſicht auf mich keinen ſehr angenehmen Eindruck machte. Er winkte, und der Führer entfernte ſich. „Wer ſeid ihr?“ fragte er, ohne uns zu begrüßen. „Wer biſt du?“ fragte ich in ganz demſelben kurzen Tone wie er. Er runzelte die Stirn. „Ich bin der Bruder des Melek von Lizan.“ „Und wir ſind Gefangene des Melek von Lizan.“ „Dein Benehmen iſt nicht ſo, als ob du ein Ge- fangener ſeiſt.“ „Weil ich freiwillig ein Gefangener bin und ſehr genau weiß, daß ich es nicht lange bleiben werde.“ „Freiwillig? Man hat dich doch gefangen genommen!“ „Und wir haben uns wieder frei gemacht und ſind euren Männern aus freiem Willen gefolgt, um nicht ge- zwungen zu ſein, ihnen das Leben zu nehmen. Iſt das dir nicht erzählt worden?“ „Ich glaube es nicht.“ „Du wirſt es glauben lernen.“ „Du biſt bei dem Bey von Gumri geweſen!“ fuhr er fort. „Wie kommſt du zu dieſem?“ „Ich hatte ihm Grüße von einem Verwandten aus- zurichten.“ „So biſt du nicht ein Vaſall von ihm?“ „Nein. Ich bin ein Fremdling in dieſem Lande.“ „Ein Chriſt, wie ich hörte?“ „Du haſt die Wahrheit gehört.“ „Aber ein Chriſt, der an die falſche Lehre glaubt!“

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/481>, abgerufen am 22.11.2024.