"Wie kommen diese Fremden nach Gumri?" fragte ich Dohub.
"Es sind meist Bluträcher, welche hier zusammen- kommen, um sich gegenseitig auszugleichen, und Boten aus vielen Gegenden, in denen man einen Aufstand der Christen befürchtet."
"Habt ihr hier eine ähnliche Befürchtung zu hegen?"
"Ja, Emir. Die Christen in den Tijaribergen heulen wie die Hunde, welche man angekettet hat. Sie wollen gern los sein, aber ihr Bellen hilft ihnen nichts. Wir haben vernommen, daß sie in das Thal von Berwari ein- fallen wollen; ja, sie haben bereits einige Männer unsers Stammes getötet; aber das Blut derselben wird sehr bald über sie kommen. Ich war heute in Mia, wo morgen eine Bärenjagd abgehalten werden soll, und fand das ganze untere Dorf verlassen."
"Es giebt wohl zwei Dörfer, welche Mia heißen?"
"Ja; sie gehören unserm Bey. Das obere Dorf wird vur von echten Moslemim und das untere nur von christ- lichen Nestorah bewohnt. Diese letzteren sind plötzlich verschwunden."
"Warum?"
"Man weiß es nicht. Aber Chodih, hier ist die Wohnung des Bey. Steige ab mit den Deinen und er- laube, daß ich dem Bey deine Ankunft verkündige!"
Wir hielten vor einem langen, unscheinbaren Ge- bäude, dessen Ausdehnung allein verriet, daß es die Wohnung eines Anführers sei. Auf ein Wort Dohubs kamen einige Kurden herbei, um unsere Pferde in Em- pfang zu nehmen und in den Stall zu führen. Er selbst aber kehrte bereits nach wenigen Augenblicken zurück und führte uns zu dem Bey. Wir fanden denselben in einem großen Empfangsraume, bis zu dessen Thüre er uns ent-
„Wie kommen dieſe Fremden nach Gumri?“ fragte ich Dohub.
„Es ſind meiſt Bluträcher, welche hier zuſammen- kommen, um ſich gegenſeitig auszugleichen, und Boten aus vielen Gegenden, in denen man einen Aufſtand der Chriſten befürchtet.“
„Habt ihr hier eine ähnliche Befürchtung zu hegen?“
„Ja, Emir. Die Chriſten in den Tijaribergen heulen wie die Hunde, welche man angekettet hat. Sie wollen gern los ſein, aber ihr Bellen hilft ihnen nichts. Wir haben vernommen, daß ſie in das Thal von Berwari ein- fallen wollen; ja, ſie haben bereits einige Männer unſers Stammes getötet; aber das Blut derſelben wird ſehr bald über ſie kommen. Ich war heute in Mia, wo morgen eine Bärenjagd abgehalten werden ſoll, und fand das ganze untere Dorf verlaſſen.“
„Es giebt wohl zwei Dörfer, welche Mia heißen?“
„Ja; ſie gehören unſerm Bey. Das obere Dorf wird vur von echten Moslemim und das untere nur von chriſt- lichen Neſtorah bewohnt. Dieſe letzteren ſind plötzlich verſchwunden.“
„Warum?“
„Man weiß es nicht. Aber Chodih, hier iſt die Wohnung des Bey. Steige ab mit den Deinen und er- laube, daß ich dem Bey deine Ankunft verkündige!“
Wir hielten vor einem langen, unſcheinbaren Ge- bäude, deſſen Ausdehnung allein verriet, daß es die Wohnung eines Anführers ſei. Auf ein Wort Dohubs kamen einige Kurden herbei, um unſere Pferde in Em- pfang zu nehmen und in den Stall zu führen. Er ſelbſt aber kehrte bereits nach wenigen Augenblicken zurück und führte uns zu dem Bey. Wir fanden denſelben in einem großen Empfangsraume, bis zu deſſen Thüre er uns ent-
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„Wie kommen dieſe Fremden nach Gumri?“ fragte
ich Dohub.
„Es ſind meiſt Bluträcher, welche hier zuſammen-
kommen, um ſich gegenſeitig auszugleichen, und Boten aus
vielen Gegenden, in denen man einen Aufſtand der Chriſten
befürchtet.“
„Habt ihr hier eine ähnliche Befürchtung zu hegen?“
„Ja, Emir. Die Chriſten in den Tijaribergen heulen
wie die Hunde, welche man angekettet hat. Sie wollen
gern los ſein, aber ihr Bellen hilft ihnen nichts. Wir
haben vernommen, daß ſie in das Thal von Berwari ein-
fallen wollen; ja, ſie haben bereits einige Männer unſers
Stammes getötet; aber das Blut derſelben wird ſehr bald
über ſie kommen. Ich war heute in Mia, wo morgen
eine Bärenjagd abgehalten werden ſoll, und fand das
ganze untere Dorf verlaſſen.“
„Es giebt wohl zwei Dörfer, welche Mia heißen?“
„Ja; ſie gehören unſerm Bey. Das obere Dorf wird
vur von echten Moslemim und das untere nur von chriſt-
lichen Neſtorah bewohnt. Dieſe letzteren ſind plötzlich
verſchwunden.“
„Warum?“
„Man weiß es nicht. Aber Chodih, hier iſt die
Wohnung des Bey. Steige ab mit den Deinen und er-
laube, daß ich dem Bey deine Ankunft verkündige!“
Wir hielten vor einem langen, unſcheinbaren Ge-
bäude, deſſen Ausdehnung allein verriet, daß es die
Wohnung eines Anführers ſei. Auf ein Wort Dohubs
kamen einige Kurden herbei, um unſere Pferde in Em-
pfang zu nehmen und in den Stall zu führen. Er ſelbſt
aber kehrte bereits nach wenigen Augenblicken zurück und
führte uns zu dem Bey. Wir fanden denſelben in einem
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/439>, abgerufen am 24.11.2024.
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