zog es über sein Gesicht, wie Sonnenblick und Wolken- schatten über ein wogendes Feld, dann öffnete er den Mund, aber da stürzte ihm plötzlich die so lange zurück- gehaltene Flut aus den Augen. Das Wort, welches er sagen wollte, wurde zu einem unverständlichen Laute. Er reichte mir die Hand; ich nahm und drückte sie, selbst tief gerührt, und dann zog er sich sehr eilig in den Flur zurück.
Das hatte Mersinah abgewartet. Sie trat hervor, wie die Sonne aus der Morgenröte. Sie wollte eben bei Halef beginnen, da drängte ich mein Pferd heran und sagte:
"Halef, reite mit den andern einstweilen in das Thal hinab. Ich muß noch einmal zum Mutesselim und werde schnell nachkommen." Dann wandte ich mich zu Mersinah: "Hier, nimm meine Hand! Ich danke dir für alles. Lebe wohl, stirb nie und denke an mich, so oft du die liebliche Speise deiner Gefangenen kochst!"
"Lebe wohl, Emir! Du bist der großmütigste --"
Mehr hörte ich nicht. Ich ritt schnell, gefolgt von meinem Hunde, nach dem Palaste des Kommandanten, ließ das Pferd vor dem Thore stehen und trat ein. Der Hund folgte mir; ich wollte das so. Im Vorzimmer waren einige Personen, die ich bereits dort gesehen hatte. Sie fuhren erschrocken empor, als sie den Hund erblickten. Das hatte noch niemand gewagt.
"Wo ist der Mutesselim?" fragte ich.
"Im Selamlük," antwortete einer.
"Ist er allein?"
"Der Aufseher des Palastes ist bei ihm."
Ich ließ mich gar nicht anmelden, sondern trat ein. Der Hund war an meiner Seite. Der Aufseher des Pala- stes machte eine Gebärde des Entsetzens, und der Mutesse- lim erhob sich augenblicklich.
"Effendi, was thust du?" rief er.
II. 24
zog es über ſein Geſicht, wie Sonnenblick und Wolken- ſchatten über ein wogendes Feld, dann öffnete er den Mund, aber da ſtürzte ihm plötzlich die ſo lange zurück- gehaltene Flut aus den Augen. Das Wort, welches er ſagen wollte, wurde zu einem unverſtändlichen Laute. Er reichte mir die Hand; ich nahm und drückte ſie, ſelbſt tief gerührt, und dann zog er ſich ſehr eilig in den Flur zurück.
Das hatte Merſinah abgewartet. Sie trat hervor, wie die Sonne aus der Morgenröte. Sie wollte eben bei Halef beginnen, da drängte ich mein Pferd heran und ſagte:
„Halef, reite mit den andern einſtweilen in das Thal hinab. Ich muß noch einmal zum Muteſſelim und werde ſchnell nachkommen.“ Dann wandte ich mich zu Merſinah: „Hier, nimm meine Hand! Ich danke dir für alles. Lebe wohl, ſtirb nie und denke an mich, ſo oft du die liebliche Speiſe deiner Gefangenen kochſt!“
„Lebe wohl, Emir! Du biſt der großmütigſte —“
Mehr hörte ich nicht. Ich ritt ſchnell, gefolgt von meinem Hunde, nach dem Palaſte des Kommandanten, ließ das Pferd vor dem Thore ſtehen und trat ein. Der Hund folgte mir; ich wollte das ſo. Im Vorzimmer waren einige Perſonen, die ich bereits dort geſehen hatte. Sie fuhren erſchrocken empor, als ſie den Hund erblickten. Das hatte noch niemand gewagt.
„Wo iſt der Muteſſelim?“ fragte ich.
„Im Selamlük,“ antwortete einer.
„Iſt er allein?“
„Der Aufſeher des Palaſtes iſt bei ihm.“
Ich ließ mich gar nicht anmelden, ſondern trat ein. Der Hund war an meiner Seite. Der Aufſeher des Pala- ſtes machte eine Gebärde des Entſetzens, und der Muteſſe- lim erhob ſich augenblicklich.
„Effendi, was thuſt du?“ rief er.
II. 24
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zog es über ſein Geſicht, wie Sonnenblick und Wolken-
ſchatten über ein wogendes Feld, dann öffnete er den
Mund, aber da ſtürzte ihm plötzlich die ſo lange zurück-
gehaltene Flut aus den Augen. Das Wort, welches er
ſagen wollte, wurde zu einem unverſtändlichen Laute. Er
reichte mir die Hand; ich nahm und drückte ſie, ſelbſt tief
gerührt, und dann zog er ſich ſehr eilig in den Flur zurück.
Das hatte Merſinah abgewartet. Sie trat hervor,
wie die Sonne aus der Morgenröte. Sie wollte eben bei
Halef beginnen, da drängte ich mein Pferd heran und ſagte:
„Halef, reite mit den andern einſtweilen in das Thal
hinab. Ich muß noch einmal zum Muteſſelim und werde
ſchnell nachkommen.“ Dann wandte ich mich zu Merſinah:
„Hier, nimm meine Hand! Ich danke dir für alles. Lebe
wohl, ſtirb nie und denke an mich, ſo oft du die liebliche
Speiſe deiner Gefangenen kochſt!“
„Lebe wohl, Emir! Du biſt der großmütigſte —“
Mehr hörte ich nicht. Ich ritt ſchnell, gefolgt von
meinem Hunde, nach dem Palaſte des Kommandanten,
ließ das Pferd vor dem Thore ſtehen und trat ein. Der
Hund folgte mir; ich wollte das ſo. Im Vorzimmer
waren einige Perſonen, die ich bereits dort geſehen hatte.
Sie fuhren erſchrocken empor, als ſie den Hund erblickten.
Das hatte noch niemand gewagt.
„Wo iſt der Muteſſelim?“ fragte ich.
„Im Selamlük,“ antwortete einer.
„Iſt er allein?“
„Der Aufſeher des Palaſtes iſt bei ihm.“
Ich ließ mich gar nicht anmelden, ſondern trat ein.
Der Hund war an meiner Seite. Der Aufſeher des Pala-
ſtes machte eine Gebärde des Entſetzens, und der Muteſſe-
lim erhob ſich augenblicklich.
„Effendi, was thuſt du?“ rief er.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/383>, abgerufen am 25.11.2024.
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