"Du irrst, Mutesselim. Ich bin der gütigste von ihnen allen. Mein Hadschi Halef Omar ist ein Held; der Hadschi Lindsay-Bey ist ein Wüterich, und der dritte, den du noch nicht gesehen hast, der übertrifft noch beide. Du wärest nur tot von ihnen weggekommen! Wie lange aber, glaubst du, daß ich mich hier in diesem Loche befunden hätte?"
"So lange es mir beliebte!"
"Meinst du? Sieh diese Waffen und diesen Beutel mit Kugeln und Patronen! Ich hätte die Riegel oder die Angeln aus der Thüre geschossen und in zwei Minuten da gestanden, wo ich jetzt stehe. Und bereits bei dem ersten Schusse hätten meine Leute gewußt, daß ich in Ge- fahr war. Sie wären herbeigeeilt, um mir zu helfen."
"Sie hätten nicht herein gekonnt."
"Eine Büchsenkugel öffnet dein altes Schloß ganz leicht. Komm her, ich will dir etwas zeigen!"
Ich drehte ihn nach der Zelle zu und deutete nach dem Fensterloche, durch welches man ein Stückchen des Himmels erblicken konnte; jetzt aber sah man in dem Rahmen des Loches eine Gestalt, welche ein schwarz und rot karriertes Gewand trug, eine Büchse in der Hand hielt und aufmerksam nach dem Gefängnisse herüberblickte.
"Kennst du diesen Mann?" fragte ich.
"Hadschi Lindsey-Bey!"
"Ja, er ist's. Er steht auf dem Dache meiner Woh- nung und wartet auf das Zeichen, welches wir verabredet haben. Mutesselim, dein Leben hängt an einem Haare. Was hast du gegen mich?"
"Du hast den Entflohenen befreit!"
"Wer sagte das?"
"Ich habe Zeugen."
"Mußt du mich da gefangen nehmen, mich, einen
„Du irrſt, Muteſſelim. Ich bin der gütigſte von ihnen allen. Mein Hadſchi Halef Omar iſt ein Held; der Hadſchi Lindſay-Bey iſt ein Wüterich, und der dritte, den du noch nicht geſehen haſt, der übertrifft noch beide. Du wäreſt nur tot von ihnen weggekommen! Wie lange aber, glaubſt du, daß ich mich hier in dieſem Loche befunden hätte?“
„So lange es mir beliebte!“
„Meinſt du? Sieh dieſe Waffen und dieſen Beutel mit Kugeln und Patronen! Ich hätte die Riegel oder die Angeln aus der Thüre geſchoſſen und in zwei Minuten da geſtanden, wo ich jetzt ſtehe. Und bereits bei dem erſten Schuſſe hätten meine Leute gewußt, daß ich in Ge- fahr war. Sie wären herbeigeeilt, um mir zu helfen.“
„Sie hätten nicht herein gekonnt.“
„Eine Büchſenkugel öffnet dein altes Schloß ganz leicht. Komm her, ich will dir etwas zeigen!“
Ich drehte ihn nach der Zelle zu und deutete nach dem Fenſterloche, durch welches man ein Stückchen des Himmels erblicken konnte; jetzt aber ſah man in dem Rahmen des Loches eine Geſtalt, welche ein ſchwarz und rot karriertes Gewand trug, eine Büchſe in der Hand hielt und aufmerkſam nach dem Gefängniſſe herüberblickte.
„Kennſt du dieſen Mann?“ fragte ich.
„Hadſchi Lindſey-Bey!“
„Ja, er iſt's. Er ſteht auf dem Dache meiner Woh- nung und wartet auf das Zeichen, welches wir verabredet haben. Muteſſelim, dein Leben hängt an einem Haare. Was haſt du gegen mich?“
„Du haſt den Entflohenen befreit!“
„Wer ſagte das?“
„Ich habe Zeugen.“
„Mußt du mich da gefangen nehmen, mich, einen
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„Du irrſt, Muteſſelim. Ich bin der gütigſte von
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Hadſchi Lindſay-Bey iſt ein Wüterich, und der dritte, den
du noch nicht geſehen haſt, der übertrifft noch beide. Du
wäreſt nur tot von ihnen weggekommen! Wie lange aber,
glaubſt du, daß ich mich hier in dieſem Loche befunden
hätte?“
„So lange es mir beliebte!“
„Meinſt du? Sieh dieſe Waffen und dieſen Beutel
mit Kugeln und Patronen! Ich hätte die Riegel oder die
Angeln aus der Thüre geſchoſſen und in zwei Minuten
da geſtanden, wo ich jetzt ſtehe. Und bereits bei dem
erſten Schuſſe hätten meine Leute gewußt, daß ich in Ge-
fahr war. Sie wären herbeigeeilt, um mir zu helfen.“
„Sie hätten nicht herein gekonnt.“
„Eine Büchſenkugel öffnet dein altes Schloß ganz
leicht. Komm her, ich will dir etwas zeigen!“
Ich drehte ihn nach der Zelle zu und deutete nach
dem Fenſterloche, durch welches man ein Stückchen des
Himmels erblicken konnte; jetzt aber ſah man in dem
Rahmen des Loches eine Geſtalt, welche ein ſchwarz und
rot karriertes Gewand trug, eine Büchſe in der Hand
hielt und aufmerkſam nach dem Gefängniſſe herüberblickte.
„Kennſt du dieſen Mann?“ fragte ich.
„Hadſchi Lindſey-Bey!“
„Ja, er iſt's. Er ſteht auf dem Dache meiner Woh-
nung und wartet auf das Zeichen, welches wir verabredet
haben. Muteſſelim, dein Leben hängt an einem Haare.
Was haſt du gegen mich?“
„Du haſt den Entflohenen befreit!“
„Wer ſagte das?“
„Ich habe Zeugen.“
„Mußt du mich da gefangen nehmen, mich, einen
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/359>, abgerufen am 25.11.2024.
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