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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Laßt uns gehen und nachsehen!" gebot er.

Wir verließen das Gefängnis und kamen an den
Ort, an welchem ich das Gewand zerrissen und verteilt
hatte. Ich wunderte mich jetzt am Tage, daß ich nicht
während der nächtlichen Dunkelheit hinab in den Schlund
gestürzt war. Der Mutesselim besah sich das Terrain.

"Er ist hinuntergestürzt und sicher tot. Von da unten
ist kein Auferstehen! Aber wann ist er entkommen?"

Diese Frage blieb natürlich unbeantwortet, so sehr
sich der Kommandant während einiger Stunden auch Mühe
gab, dem Geheimnisse auf die Spur zu kommen. Er
wütete und tobte gegen einen jeden, der ihm nahe kam,
und so war es kein Wunder, wenn ich seine Nähe mied.
Die Zeit wurde mir trotzdem nicht lang, denn ich hatte
genug zu thun. Zunächst wurde ein Pferd für Amad el
Ghandur eingekauft, und dann ging ich zu meiner Pa-
tientin, die ich bis jetzt vernachlässigt hatte.

Vor der Thüre des Hauses stand ein gesatteltes
Maultier; es war für ein Frauenzimmer bestimmt. Im
Vordergemach stand der Vater, welcher mich mit Freuden
bewillkommnete.

Ich fand die Kranke aufrecht sitzend; ihre Wangen
waren bereits wieder leicht gerötet und ihre Augen frei
von allen Spuren des Unfalles. An ihrem Lager standen
die Mutter und die Urahne. Diese letztere befand sich
in Reisekleidern. Sie hatte über ihr weißes Gewand
einen schwarzen, mantelähnlichen Umhang geschlagen und
auf ihrem Kopfe war ein ebenfalls schwarzer Schleier be-
festigt, welcher jetzt über den Rücken hinabhing. Das
Mädchen reichte mir sofort die Hand entgegen.

"Oh, ich danke dir, Effendi, denn nun ist es sicher,
daß ich nicht sterben werde!"

"Ja, sie wird leben," sagte die Alte. "Du bist das

„Laßt uns gehen und nachſehen!“ gebot er.

Wir verließen das Gefängnis und kamen an den
Ort, an welchem ich das Gewand zerriſſen und verteilt
hatte. Ich wunderte mich jetzt am Tage, daß ich nicht
während der nächtlichen Dunkelheit hinab in den Schlund
geſtürzt war. Der Muteſſelim beſah ſich das Terrain.

„Er iſt hinuntergeſtürzt und ſicher tot. Von da unten
iſt kein Auferſtehen! Aber wann iſt er entkommen?“

Dieſe Frage blieb natürlich unbeantwortet, ſo ſehr
ſich der Kommandant während einiger Stunden auch Mühe
gab, dem Geheimniſſe auf die Spur zu kommen. Er
wütete und tobte gegen einen jeden, der ihm nahe kam,
und ſo war es kein Wunder, wenn ich ſeine Nähe mied.
Die Zeit wurde mir trotzdem nicht lang, denn ich hatte
genug zu thun. Zunächſt wurde ein Pferd für Amad el
Ghandur eingekauft, und dann ging ich zu meiner Pa-
tientin, die ich bis jetzt vernachläſſigt hatte.

Vor der Thüre des Hauſes ſtand ein geſatteltes
Maultier; es war für ein Frauenzimmer beſtimmt. Im
Vordergemach ſtand der Vater, welcher mich mit Freuden
bewillkommnete.

Ich fand die Kranke aufrecht ſitzend; ihre Wangen
waren bereits wieder leicht gerötet und ihre Augen frei
von allen Spuren des Unfalles. An ihrem Lager ſtanden
die Mutter und die Urahne. Dieſe letztere befand ſich
in Reiſekleidern. Sie hatte über ihr weißes Gewand
einen ſchwarzen, mantelähnlichen Umhang geſchlagen und
auf ihrem Kopfe war ein ebenfalls ſchwarzer Schleier be-
feſtigt, welcher jetzt über den Rücken hinabhing. Das
Mädchen reichte mir ſofort die Hand entgegen.

„Oh, ich danke dir, Effendi, denn nun iſt es ſicher,
daß ich nicht ſterben werde!“

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[329/0343] „Laßt uns gehen und nachſehen!“ gebot er. Wir verließen das Gefängnis und kamen an den Ort, an welchem ich das Gewand zerriſſen und verteilt hatte. Ich wunderte mich jetzt am Tage, daß ich nicht während der nächtlichen Dunkelheit hinab in den Schlund geſtürzt war. Der Muteſſelim beſah ſich das Terrain. „Er iſt hinuntergeſtürzt und ſicher tot. Von da unten iſt kein Auferſtehen! Aber wann iſt er entkommen?“ Dieſe Frage blieb natürlich unbeantwortet, ſo ſehr ſich der Kommandant während einiger Stunden auch Mühe gab, dem Geheimniſſe auf die Spur zu kommen. Er wütete und tobte gegen einen jeden, der ihm nahe kam, und ſo war es kein Wunder, wenn ich ſeine Nähe mied. Die Zeit wurde mir trotzdem nicht lang, denn ich hatte genug zu thun. Zunächſt wurde ein Pferd für Amad el Ghandur eingekauft, und dann ging ich zu meiner Pa- tientin, die ich bis jetzt vernachläſſigt hatte. Vor der Thüre des Hauſes ſtand ein geſatteltes Maultier; es war für ein Frauenzimmer beſtimmt. Im Vordergemach ſtand der Vater, welcher mich mit Freuden bewillkommnete. Ich fand die Kranke aufrecht ſitzend; ihre Wangen waren bereits wieder leicht gerötet und ihre Augen frei von allen Spuren des Unfalles. An ihrem Lager ſtanden die Mutter und die Urahne. Dieſe letztere befand ſich in Reiſekleidern. Sie hatte über ihr weißes Gewand einen ſchwarzen, mantelähnlichen Umhang geſchlagen und auf ihrem Kopfe war ein ebenfalls ſchwarzer Schleier be- feſtigt, welcher jetzt über den Rücken hinabhing. Das Mädchen reichte mir ſofort die Hand entgegen. „Oh, ich danke dir, Effendi, denn nun iſt es ſicher, daß ich nicht ſterben werde!“ „Ja, ſie wird leben,“ ſagte die Alte. „Du biſt das

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/343>, abgerufen am 26.11.2024.