Der Agha nahm wieder Platz. Der Kommandant richtete sich ein wenig empor und erkundigte sich mit liebe- voller Herablassung:
"In welcher Wade hast du den Krampf?"
"In der rechten."
"Gieb mir einmal das Bein!"
"Der Agha streckte es ihm hin, und sein Vorgesetzter begann, an demselben mit allen Kräften zu zerren und zu ziehen.
"O jazik -- o wehe, Herr; ich glaube, daß es doch in der linken ist!"
"So gieb diese her!"
Selim reichte ihm sein anderes Vehikel hin, und der Helfer in der Not zog aus Leibeskräften. Es war komisch- rührend, zu sehen, daß dieser hochgestellte Beamte, der gewohnt war, sich auch im Allerkleinsten bedienen zu lassen, seinem Untergebenen mit so brüderlicher Bereitwilligkeit die Wade zog und klopfte.
"Gut! Ich glaube, es ist nun weg!" sagte der Agha.
"So stehe einmal auf und probiere es!"
Selim erhob sich und gab sich dieses Mal Mühe. Er stand kerzengrad. Aber mit dem Gehen! Ich sah es ihm an, daß es ihm war wie einem flüggen Vogel, der sich zum erstenmal der unsicheren Luft anvertrauen will.
"Laufe einmal!" gebot der Mutesselim. "Komm; ich werde dich unterstützen!"
Er wollte sich mit der gewohnten Schnelligkeit auf- richten, verlor aber die Balance und kam sehr schnell in seine vorige Stellung zurück. Aber er wußte sich zu hel- fen. Er legte seine Hand auf meine Achsel und stand auf. Dann machte er die Beine breit, um eine festere Stellung zu bekommen, und starrte ganz verwundert auf die rote Lampe.
Der Agha nahm wieder Platz. Der Kommandant richtete ſich ein wenig empor und erkundigte ſich mit liebe- voller Herablaſſung:
„In welcher Wade haſt du den Krampf?“
„In der rechten.“
„Gieb mir einmal das Bein!“
„Der Agha ſtreckte es ihm hin, und ſein Vorgeſetzter begann, an demſelben mit allen Kräften zu zerren und zu ziehen.
„O jazik — o wehe, Herr; ich glaube, daß es doch in der linken iſt!“
„So gieb dieſe her!“
Selim reichte ihm ſein anderes Vehikel hin, und der Helfer in der Not zog aus Leibeskräften. Es war komiſch- rührend, zu ſehen, daß dieſer hochgeſtellte Beamte, der gewohnt war, ſich auch im Allerkleinſten bedienen zu laſſen, ſeinem Untergebenen mit ſo brüderlicher Bereitwilligkeit die Wade zog und klopfte.
„Gut! Ich glaube, es iſt nun weg!“ ſagte der Agha.
„So ſtehe einmal auf und probiere es!“
Selim erhob ſich und gab ſich dieſes Mal Mühe. Er ſtand kerzengrad. Aber mit dem Gehen! Ich ſah es ihm an, daß es ihm war wie einem flüggen Vogel, der ſich zum erſtenmal der unſicheren Luft anvertrauen will.
„Laufe einmal!“ gebot der Muteſſelim. „Komm; ich werde dich unterſtützen!“
Er wollte ſich mit der gewohnten Schnelligkeit auf- richten, verlor aber die Balance und kam ſehr ſchnell in ſeine vorige Stellung zurück. Aber er wußte ſich zu hel- fen. Er legte ſeine Hand auf meine Achſel und ſtand auf. Dann machte er die Beine breit, um eine feſtere Stellung zu bekommen, und ſtarrte ganz verwundert auf die rote Lampe.
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Der Agha nahm wieder Platz. Der Kommandant
richtete ſich ein wenig empor und erkundigte ſich mit liebe-
voller Herablaſſung:
„In welcher Wade haſt du den Krampf?“
„In der rechten.“
„Gieb mir einmal das Bein!“
„Der Agha ſtreckte es ihm hin, und ſein Vorgeſetzter
begann, an demſelben mit allen Kräften zu zerren und zu
ziehen.
„O jazik — o wehe, Herr; ich glaube, daß es doch
in der linken iſt!“
„So gieb dieſe her!“
Selim reichte ihm ſein anderes Vehikel hin, und der
Helfer in der Not zog aus Leibeskräften. Es war komiſch-
rührend, zu ſehen, daß dieſer hochgeſtellte Beamte, der
gewohnt war, ſich auch im Allerkleinſten bedienen zu laſſen,
ſeinem Untergebenen mit ſo brüderlicher Bereitwilligkeit
die Wade zog und klopfte.
„Gut! Ich glaube, es iſt nun weg!“ ſagte der Agha.
„So ſtehe einmal auf und probiere es!“
Selim erhob ſich und gab ſich dieſes Mal Mühe. Er
ſtand kerzengrad. Aber mit dem Gehen! Ich ſah es ihm
an, daß es ihm war wie einem flüggen Vogel, der ſich
zum erſtenmal der unſicheren Luft anvertrauen will.
„Laufe einmal!“ gebot der Muteſſelim. „Komm; ich
werde dich unterſtützen!“
Er wollte ſich mit der gewohnten Schnelligkeit auf-
richten, verlor aber die Balance und kam ſehr ſchnell in
ſeine vorige Stellung zurück. Aber er wußte ſich zu hel-
fen. Er legte ſeine Hand auf meine Achſel und ſtand auf.
Dann machte er die Beine breit, um eine feſtere Stellung
zu bekommen, und ſtarrte ganz verwundert auf die rote
Lampe.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/318>, abgerufen am 28.11.2024.
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