wirklich kindlichen Freude begrüßt und angeredet. Als wir die Höhe erreichten, bot sich uns ein geradezu unbe- schreiblicher Anblick dar. Mehrere der Dschesidi waren uns gefolgt, um uns zu leuchten: ich aber bat sie, zurück- zugehen oder ihre Fackeln zu verlöschen. Wer den Genuß vollständig haben wollte, mußte sich selbst im Dunkeln befinden.
Da unten im Thale flutete Flamme an Flamme. Tausend leuchtende Punkte kreuzten, hüpften und schlüpften, tanzten, schossen und flogen durcheinander, klein, ganz klein tief unten, je näher aber zu uns, desto größer werdend. Das Heiligtum wallte förmlich von Glanz und Licht, und die beiden Türme leckten empor in das Dunkel der Nacht wie flammende Hymnen. Dazu ertönte von unten herauf zu uns das dumpfe Wogen und Brausen der Stimmen, oft unterbrochen von einem lauten, nahen Jubelrufe. Ich hätte stundenlang hier stehen und mich an diesem An- blicke weiden und ergötzen können.
"Was ist das für ein Stern?" ertönte da neben mir eine Frage in kurdischer Sprache.
Einer der Dschesidi hatte sie ausgesprochen.
"Wo?" fragte ein anderer.
"Siehe die Rea kadisahn *) da rechts!"
"Ich sehe sie."
"Unter ihr flammte ein heller Stern auf. Jetzt wie- der! Siehst du ihn?"
"Ich sah ihn. Es ist der Kjale be scheri **)."
Die vier Sterne, welche in unserm Sternbilde den Rücken des Bären bilden, heißen nämlich bei den Kurden "der Alte". Sie meinen, daß sein Kopf hinter einer be- nachbarten Sternengruppe versteckt sei. Die drei Sterne, welche bei uns den Schwanz des großen Bären bilden
*) Milchstraße
**) Wörtlich: der Alte ohne Kopf (große Bär.)
wirklich kindlichen Freude begrüßt und angeredet. Als wir die Höhe erreichten, bot ſich uns ein geradezu unbe- ſchreiblicher Anblick dar. Mehrere der Dſcheſidi waren uns gefolgt, um uns zu leuchten: ich aber bat ſie, zurück- zugehen oder ihre Fackeln zu verlöſchen. Wer den Genuß vollſtändig haben wollte, mußte ſich ſelbſt im Dunkeln befinden.
Da unten im Thale flutete Flamme an Flamme. Tauſend leuchtende Punkte kreuzten, hüpften und ſchlüpften, tanzten, ſchoſſen und flogen durcheinander, klein, ganz klein tief unten, je näher aber zu uns, deſto größer werdend. Das Heiligtum wallte förmlich von Glanz und Licht, und die beiden Türme leckten empor in das Dunkel der Nacht wie flammende Hymnen. Dazu ertönte von unten herauf zu uns das dumpfe Wogen und Brauſen der Stimmen, oft unterbrochen von einem lauten, nahen Jubelrufe. Ich hätte ſtundenlang hier ſtehen und mich an dieſem An- blicke weiden und ergötzen können.
„Was iſt das für ein Stern?“ ertönte da neben mir eine Frage in kurdiſcher Sprache.
Einer der Dſcheſidi hatte ſie ausgeſprochen.
„Wo?“ fragte ein anderer.
„Siehe die Rea kadiſahn *) da rechts!“
„Ich ſehe ſie.“
„Unter ihr flammte ein heller Stern auf. Jetzt wie- der! Siehſt du ihn?“
„Ich ſah ihn. Es iſt der Kjale be ſcheri **).“
Die vier Sterne, welche in unſerm Sternbilde den Rücken des Bären bilden, heißen nämlich bei den Kurden „der Alte“. Sie meinen, daß ſein Kopf hinter einer be- nachbarten Sternengruppe verſteckt ſei. Die drei Sterne, welche bei uns den Schwanz des großen Bären bilden
*) Milchſtraße
**) Wörtlich: der Alte ohne Kopf (große Bär.)
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wirklich kindlichen Freude begrüßt und angeredet. Als
wir die Höhe erreichten, bot ſich uns ein geradezu unbe-
ſchreiblicher Anblick dar. Mehrere der Dſcheſidi waren
uns gefolgt, um uns zu leuchten: ich aber bat ſie, zurück-
zugehen oder ihre Fackeln zu verlöſchen. Wer den Genuß
vollſtändig haben wollte, mußte ſich ſelbſt im Dunkeln
befinden.
Da unten im Thale flutete Flamme an Flamme.
Tauſend leuchtende Punkte kreuzten, hüpften und ſchlüpften,
tanzten, ſchoſſen und flogen durcheinander, klein, ganz klein
tief unten, je näher aber zu uns, deſto größer werdend.
Das Heiligtum wallte förmlich von Glanz und Licht, und
die beiden Türme leckten empor in das Dunkel der Nacht
wie flammende Hymnen. Dazu ertönte von unten herauf
zu uns das dumpfe Wogen und Brauſen der Stimmen,
oft unterbrochen von einem lauten, nahen Jubelrufe. Ich
hätte ſtundenlang hier ſtehen und mich an dieſem An-
blicke weiden und ergötzen können.
„Was iſt das für ein Stern?“ ertönte da neben mir
eine Frage in kurdiſcher Sprache.
Einer der Dſcheſidi hatte ſie ausgeſprochen.
„Wo?“ fragte ein anderer.
„Siehe die Rea kadiſahn *) da rechts!“
„Ich ſehe ſie.“
„Unter ihr flammte ein heller Stern auf. Jetzt wie-
der! Siehſt du ihn?“
„Ich ſah ihn. Es iſt der Kjale be ſcheri **).“
Die vier Sterne, welche in unſerm Sternbilde den
Rücken des Bären bilden, heißen nämlich bei den Kurden
„der Alte“. Sie meinen, daß ſein Kopf hinter einer be-
nachbarten Sternengruppe verſteckt ſei. Die drei Sterne,
welche bei uns den Schwanz des großen Bären bilden
*) Milchſtraße
**) Wörtlich: der Alte ohne Kopf (große Bär.)
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/29>, abgerufen am 22.12.2024.
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