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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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befanden, griff er in den Gürtel und zog einen Brief
hervor.

"Von wem?"

"Von Ali Bey."

"Wer hat ihn geschrieben?"

"Mir Scheik Khan, der Oberste der Priester."

"Wie hast du meine Wohnung gefunden?"

"Ich frug gleich am Thore nach dir."

"Und woher weißt du, daß zwei Effendi bei mir
sind? Als ich bei euch war, hatte ich nur einen bei mir."

"Ich erfuhr es in Spandareh."

Ich öffnete den Brief. Er enthielt sehr Interessantes,
einige gute Nachrichten, welche die Dschesidi betrafen, und
eine schlimme, welche sich auf mich bezog.

"Was? Einen solchen Erfolg hat die Gesandtschaft
Ali Beys gehabt?" fragte ich. "Der Anadoli Kasi As-
kerie *) ist mit ihr nach Mossul gekommen?"

"Ja, Herr. Er liebt unsern Mir Scheik Khan und
hat eine strenge Untersuchung gehalten. Der Mutessarif
wird weggenommen; an seine Stelle kommt ein anderer."

"Und der Makredsch von Mossul ist entflohen?"

"So ist es. Er war an allen Fehlern schuld, die
der Mutessarif gemacht hat. Es haben sich sehr schlimme
Dinge herausgestellt. Seit elf Monaten hat kein Unter-
Gouverneur die nötigen Gelder und kein Befehlshaber
und kein Soldat seinen Sold erhalten. Die Demütigung
der Araber, welche die hohe Pforte anbefohlen hatte, blieb
unterlassen, weil er alle Summen einsteckte, welche dazu
erforderlich waren. Und so noch vieles andere. Die Kha-
wassen, welche den Makredsch gefangen nehmen sollten,
sind zu spät gekommen; er war fort. Darum haben alle
Beys und Kajahs der Umgegend den Befehl erhalten, ihn

*) Oberrichter der asiatischen Türkei.

befanden, griff er in den Gürtel und zog einen Brief
hervor.

„Von wem?“

„Von Ali Bey.“

„Wer hat ihn geſchrieben?“

„Mir Scheik Khan, der Oberſte der Prieſter.“

„Wie haſt du meine Wohnung gefunden?“

„Ich frug gleich am Thore nach dir.“

„Und woher weißt du, daß zwei Effendi bei mir
ſind? Als ich bei euch war, hatte ich nur einen bei mir.“

„Ich erfuhr es in Spandareh.“

Ich öffnete den Brief. Er enthielt ſehr Intereſſantes,
einige gute Nachrichten, welche die Dſcheſidi betrafen, und
eine ſchlimme, welche ſich auf mich bezog.

„Was? Einen ſolchen Erfolg hat die Geſandtſchaft
Ali Beys gehabt?“ fragte ich. „Der Anadoli Kaſi As-
kerie *) iſt mit ihr nach Moſſul gekommen?“

„Ja, Herr. Er liebt unſern Mir Scheik Khan und
hat eine ſtrenge Unterſuchung gehalten. Der Muteſſarif
wird weggenommen; an ſeine Stelle kommt ein anderer.“

„Und der Makredſch von Moſſul iſt entflohen?“

„So iſt es. Er war an allen Fehlern ſchuld, die
der Muteſſarif gemacht hat. Es haben ſich ſehr ſchlimme
Dinge herausgeſtellt. Seit elf Monaten hat kein Unter-
Gouverneur die nötigen Gelder und kein Befehlshaber
und kein Soldat ſeinen Sold erhalten. Die Demütigung
der Araber, welche die hohe Pforte anbefohlen hatte, blieb
unterlaſſen, weil er alle Summen einſteckte, welche dazu
erforderlich waren. Und ſo noch vieles andere. Die Kha-
waſſen, welche den Makredſch gefangen nehmen ſollten,
ſind zu ſpät gekommen; er war fort. Darum haben alle
Beys und Kajahs der Umgegend den Befehl erhalten, ihn

*) Oberrichter der aſiatiſchen Türkei.
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[255/0269] befanden, griff er in den Gürtel und zog einen Brief hervor. „Von wem?“ „Von Ali Bey.“ „Wer hat ihn geſchrieben?“ „Mir Scheik Khan, der Oberſte der Prieſter.“ „Wie haſt du meine Wohnung gefunden?“ „Ich frug gleich am Thore nach dir.“ „Und woher weißt du, daß zwei Effendi bei mir ſind? Als ich bei euch war, hatte ich nur einen bei mir.“ „Ich erfuhr es in Spandareh.“ Ich öffnete den Brief. Er enthielt ſehr Intereſſantes, einige gute Nachrichten, welche die Dſcheſidi betrafen, und eine ſchlimme, welche ſich auf mich bezog. „Was? Einen ſolchen Erfolg hat die Geſandtſchaft Ali Beys gehabt?“ fragte ich. „Der Anadoli Kaſi As- kerie *) iſt mit ihr nach Moſſul gekommen?“ „Ja, Herr. Er liebt unſern Mir Scheik Khan und hat eine ſtrenge Unterſuchung gehalten. Der Muteſſarif wird weggenommen; an ſeine Stelle kommt ein anderer.“ „Und der Makredſch von Moſſul iſt entflohen?“ „So iſt es. Er war an allen Fehlern ſchuld, die der Muteſſarif gemacht hat. Es haben ſich ſehr ſchlimme Dinge herausgeſtellt. Seit elf Monaten hat kein Unter- Gouverneur die nötigen Gelder und kein Befehlshaber und kein Soldat ſeinen Sold erhalten. Die Demütigung der Araber, welche die hohe Pforte anbefohlen hatte, blieb unterlaſſen, weil er alle Summen einſteckte, welche dazu erforderlich waren. Und ſo noch vieles andere. Die Kha- waſſen, welche den Makredſch gefangen nehmen ſollten, ſind zu ſpät gekommen; er war fort. Darum haben alle Beys und Kajahs der Umgegend den Befehl erhalten, ihn *) Oberrichter der aſiatiſchen Türkei.

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/269>, abgerufen am 23.12.2024.