legte den Kopf in die Hand. Eine lautlose Stille trat ein, und nach einer kleinen Weile sank der Kopf vollends nieder -- der Herr des Gefängnisses schlief.
Wie oft hatte ich gelesen, daß ein Gefangener durch die Berauschung seiner Wächter befreit worden sei, und mich über diesen verbrauchten Schriftstellercoup geärgert! Und jetzt befand ich mich in voller Wirklichkeit infolge eines Rausches in dem Besitze aller Gefangenen. Sollte ich dem Haddedihn Thor und Thüre öffnen? Das wäre wohl unklug gewesen. Wir waren nicht vorbereitet, augenblicklich die Stadt zu verlassen. Am Thore standen Wachen, welche sicher Verdacht geschöpft hätten. Auf den armen Agha wäre die ganze Schuld gefallen und -- ich mußte ganz offen als der Thäter bezeichnet werden, was mir große Gefahr bringen oder wenigstens später viele Ungelegenheiten bereiten konnte. Es war jedenfalls besser, den Gefangenen so verschwinden zu lassen, daß sein Ent- kommen ganz unbegreiflich blieb. Das war jetzt in meine Hand gegeben und machte es mir möglich, jeden Verdacht von mir fern zu halten. Ich beschloß also, heute mit dem Haddedihn nur zu sprechen, und die Flucht erst dann zu bewerkstelligen, wenn sie gehörig vorbereitet sein würde.
Der Agha lag am Boden und schnarchte laut bei offen stehendem Munde. Ich rüttelte ihn erst leise und dann stärker am Arme. Er erwachte nicht. Nun ergriff ich die Lampe und verließ die Stube, deren Thüre ich leise zumachte. Auch einen der Riegel schob ich lautlos vor, um auf keinen Fall überrascht zu werden. Ich hatte bereits vorhin achtgegeben und bemerkt, daß alle Thüren ohne Schlösser und nur mit zwei Riegeln versehen waren. Einen Schlüssel brauchte ich also nicht zu suchen.
Es war mir doch ein wenig verändert zu Mute, als ich so allein draußen auf dem Gange stand, dessen
legte den Kopf in die Hand. Eine lautloſe Stille trat ein, und nach einer kleinen Weile ſank der Kopf vollends nieder — der Herr des Gefängniſſes ſchlief.
Wie oft hatte ich geleſen, daß ein Gefangener durch die Berauſchung ſeiner Wächter befreit worden ſei, und mich über dieſen verbrauchten Schriftſtellercoup geärgert! Und jetzt befand ich mich in voller Wirklichkeit infolge eines Rauſches in dem Beſitze aller Gefangenen. Sollte ich dem Haddedihn Thor und Thüre öffnen? Das wäre wohl unklug geweſen. Wir waren nicht vorbereitet, augenblicklich die Stadt zu verlaſſen. Am Thore ſtanden Wachen, welche ſicher Verdacht geſchöpft hätten. Auf den armen Agha wäre die ganze Schuld gefallen und — ich mußte ganz offen als der Thäter bezeichnet werden, was mir große Gefahr bringen oder wenigſtens ſpäter viele Ungelegenheiten bereiten konnte. Es war jedenfalls beſſer, den Gefangenen ſo verſchwinden zu laſſen, daß ſein Ent- kommen ganz unbegreiflich blieb. Das war jetzt in meine Hand gegeben und machte es mir möglich, jeden Verdacht von mir fern zu halten. Ich beſchloß alſo, heute mit dem Haddedihn nur zu ſprechen, und die Flucht erſt dann zu bewerkſtelligen, wenn ſie gehörig vorbereitet ſein würde.
Der Agha lag am Boden und ſchnarchte laut bei offen ſtehendem Munde. Ich rüttelte ihn erſt leiſe und dann ſtärker am Arme. Er erwachte nicht. Nun ergriff ich die Lampe und verließ die Stube, deren Thüre ich leiſe zumachte. Auch einen der Riegel ſchob ich lautlos vor, um auf keinen Fall überraſcht zu werden. Ich hatte bereits vorhin achtgegeben und bemerkt, daß alle Thüren ohne Schlöſſer und nur mit zwei Riegeln verſehen waren. Einen Schlüſſel brauchte ich alſo nicht zu ſuchen.
Es war mir doch ein wenig verändert zu Mute, als ich ſo allein draußen auf dem Gange ſtand, deſſen
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legte den Kopf in die Hand. Eine lautloſe Stille trat
ein, und nach einer kleinen Weile ſank der Kopf vollends
nieder — der Herr des Gefängniſſes ſchlief.
Wie oft hatte ich geleſen, daß ein Gefangener durch
die Berauſchung ſeiner Wächter befreit worden ſei, und
mich über dieſen verbrauchten Schriftſtellercoup geärgert!
Und jetzt befand ich mich in voller Wirklichkeit infolge
eines Rauſches in dem Beſitze aller Gefangenen. Sollte
ich dem Haddedihn Thor und Thüre öffnen? Das wäre
wohl unklug geweſen. Wir waren nicht vorbereitet,
augenblicklich die Stadt zu verlaſſen. Am Thore ſtanden
Wachen, welche ſicher Verdacht geſchöpft hätten. Auf den
armen Agha wäre die ganze Schuld gefallen und — ich
mußte ganz offen als der Thäter bezeichnet werden, was
mir große Gefahr bringen oder wenigſtens ſpäter viele
Ungelegenheiten bereiten konnte. Es war jedenfalls beſſer,
den Gefangenen ſo verſchwinden zu laſſen, daß ſein Ent-
kommen ganz unbegreiflich blieb. Das war jetzt in meine
Hand gegeben und machte es mir möglich, jeden Verdacht
von mir fern zu halten. Ich beſchloß alſo, heute mit dem
Haddedihn nur zu ſprechen, und die Flucht erſt dann zu
bewerkſtelligen, wenn ſie gehörig vorbereitet ſein würde.
Der Agha lag am Boden und ſchnarchte laut bei
offen ſtehendem Munde. Ich rüttelte ihn erſt leiſe und
dann ſtärker am Arme. Er erwachte nicht. Nun ergriff
ich die Lampe und verließ die Stube, deren Thüre ich
leiſe zumachte. Auch einen der Riegel ſchob ich lautlos
vor, um auf keinen Fall überraſcht zu werden. Ich hatte
bereits vorhin achtgegeben und bemerkt, daß alle Thüren
ohne Schlöſſer und nur mit zwei Riegeln verſehen waren.
Einen Schlüſſel brauchte ich alſo nicht zu ſuchen.
Es war mir doch ein wenig verändert zu Mute,
als ich ſo allein draußen auf dem Gange ſtand, deſſen
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/256>, abgerufen am 23.12.2024.
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