Er blieb stehen oder versuchte vielmehr, still zu stehen, und sah mich überrascht an.
"Emir, du bist just ein ebenso gescheiter Kerl wie der alte Mohammed; nicht? Aber ich sage dir, dieser Tabak ist mir so in das Gehirn gefahren, daß ich hier rechts das Gefängnis sehe und dort links ebenso. Welches ist das richtige?"
"Keines von beidem. Da rechts steht eine Eiche, und das da oben links, das ist eine Wolke."
"Eine Wolke? Allah illa Allah! Erlaube, daß ich dich ein wenig fester halte!"
Der wackere Agha führte mich und zeigte dabei jene merkwürdige Manie des unwillkürlichen Fortschrittes, wel- chen man in einigen Gegenden Deutschlands "eine Lerche schießen" nennt. So kamen wir allerdings ziemlich schnell weiter, und es gelang mir endlich, ihn vor das Gebäude zu bringen, welches ich für das Gefängnis hielt, obgleich ich es von seiner vorderen Seite noch nicht gesehen hatte.
"Ist dies das Zindan?" *) fragte ich ihn.
Er schob den Turban in das Genick und blickte sich nach allen Seiten um.
"Hm! Es sieht ihm ähnlich. Emir, bemerkst du nie- mand in der Nähe, den man fragen kann? Ich habe dich so fest halten müssen, daß mir die Augen wirbeln, und das ist schlimm; denn diese Häuser sprangen an mir vor- bei wie eine galoppierende Karawane."
"Ich sehe keinen Menschen. Aber es muß es sein!"
"Wir wollen einmal probieren!"
Er fuhr mit der Hand in seinen Gürtel und vigi- lierte nach etwas, was er nicht finden konnte.
"Was suchest du?"
"Den Schlüssel zur Gefängnisthüre."
*) Gefangenhaus.
Er blieb ſtehen oder verſuchte vielmehr, ſtill zu ſtehen, und ſah mich überraſcht an.
„Emir, du biſt juſt ein ebenſo geſcheiter Kerl wie der alte Mohammed; nicht? Aber ich ſage dir, dieſer Tabak iſt mir ſo in das Gehirn gefahren, daß ich hier rechts das Gefängnis ſehe und dort links ebenſo. Welches iſt das richtige?“
„Keines von beidem. Da rechts ſteht eine Eiche, und das da oben links, das iſt eine Wolke.“
„Eine Wolke? Allah illa Allah! Erlaube, daß ich dich ein wenig feſter halte!“
Der wackere Agha führte mich und zeigte dabei jene merkwürdige Manie des unwillkürlichen Fortſchrittes, wel- chen man in einigen Gegenden Deutſchlands „eine Lerche ſchießen“ nennt. So kamen wir allerdings ziemlich ſchnell weiter, und es gelang mir endlich, ihn vor das Gebäude zu bringen, welches ich für das Gefängnis hielt, obgleich ich es von ſeiner vorderen Seite noch nicht geſehen hatte.
„Iſt dies das Zindan?“ *) fragte ich ihn.
Er ſchob den Turban in das Genick und blickte ſich nach allen Seiten um.
„Hm! Es ſieht ihm ähnlich. Emir, bemerkſt du nie- mand in der Nähe, den man fragen kann? Ich habe dich ſo feſt halten müſſen, daß mir die Augen wirbeln, und das iſt ſchlimm; denn dieſe Häuſer ſprangen an mir vor- bei wie eine galoppierende Karawane.“
„Ich ſehe keinen Menſchen. Aber es muß es ſein!“
„Wir wollen einmal probieren!“
Er fuhr mit der Hand in ſeinen Gürtel und vigi- lierte nach etwas, was er nicht finden konnte.
„Was ſucheſt du?“
„Den Schlüſſel zur Gefängnisthüre.“
*) Gefangenhaus.
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Er blieb ſtehen oder verſuchte vielmehr, ſtill zu ſtehen,
und ſah mich überraſcht an.
„Emir, du biſt juſt ein ebenſo geſcheiter Kerl wie der
alte Mohammed; nicht? Aber ich ſage dir, dieſer Tabak
iſt mir ſo in das Gehirn gefahren, daß ich hier rechts
das Gefängnis ſehe und dort links ebenſo. Welches iſt
das richtige?“
„Keines von beidem. Da rechts ſteht eine Eiche, und
das da oben links, das iſt eine Wolke.“
„Eine Wolke? Allah illa Allah! Erlaube, daß ich
dich ein wenig feſter halte!“
Der wackere Agha führte mich und zeigte dabei jene
merkwürdige Manie des unwillkürlichen Fortſchrittes, wel-
chen man in einigen Gegenden Deutſchlands „eine Lerche
ſchießen“ nennt. So kamen wir allerdings ziemlich ſchnell
weiter, und es gelang mir endlich, ihn vor das Gebäude
zu bringen, welches ich für das Gefängnis hielt, obgleich
ich es von ſeiner vorderen Seite noch nicht geſehen hatte.
„Iſt dies das Zindan?“ *) fragte ich ihn.
Er ſchob den Turban in das Genick und blickte ſich
nach allen Seiten um.
„Hm! Es ſieht ihm ähnlich. Emir, bemerkſt du nie-
mand in der Nähe, den man fragen kann? Ich habe dich
ſo feſt halten müſſen, daß mir die Augen wirbeln, und
das iſt ſchlimm; denn dieſe Häuſer ſprangen an mir vor-
bei wie eine galoppierende Karawane.“
„Ich ſehe keinen Menſchen. Aber es muß es ſein!“
„Wir wollen einmal probieren!“
Er fuhr mit der Hand in ſeinen Gürtel und vigi-
lierte nach etwas, was er nicht finden konnte.
„Was ſucheſt du?“
„Den Schlüſſel zur Gefängnisthüre.“
*) Gefangenhaus.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/251>, abgerufen am 25.11.2024.
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