Es ist ein roter, dicker und ungemein starker Naturtrank, von dem drei Schluck genügen, um einen Menschen, der noch nie Wein getrunken hat, in einen gelinden Rausch zu versetzen. Selim liebte das Getränk Noahs, aber ich war überzeugt, daß ihn der Krug mehr als überwältigen werde.
Da kam der Wirt mit zwei Krügen, von denen jeder vielleicht einen Liter faßte. Hm, armer Selim Agha! Ich versuchte einen Schluck. Der Wein hatte auf der Reise gelitten, ließ sich aber trinken.
"Nun, Hoheit, wie ist er?" fragte der Jude.
"Er ist so, daß ich dir für den Krug zwanzig Piaster geben werde."
"Herr, das ist geboten zu wenig, viel zu wenig! Für zwanzig Piaster werde ich wieder mitnehmen meinen Wein und dir bringen einen andern."
"Im Lande, wo er bereitet wird, gebe ich nach hie- sigem Gelde für diesen Krug vier Piaster. Du siehst, ich will gut bezahlen, aber wenn dir das nicht genügt, so nimm ihn wieder mit!"
Ich stand auf.
"Was soll ich bringen für welchen?"
"Keinen! Ich trinke nur diesen für zwanzig Piaster, den du mir auch für fünfzehn ließest. Bekomme ich ihn nicht, so gehe ich, und du magst ihn selbst trinken."
"So wird ihn trinken die Hoheit des Selim Agha."
"Er wird mit mir gehen."
"Gieb neunundzwanzig!"
"Nein."
"Achtundzwanzig!"
"Gute Nacht, Alter!"
Ich öffnete die Thüre.
"Komm her, Effendi! Du sollst ihn doch haben für
Es iſt ein roter, dicker und ungemein ſtarker Naturtrank, von dem drei Schluck genügen, um einen Menſchen, der noch nie Wein getrunken hat, in einen gelinden Rauſch zu verſetzen. Selim liebte das Getränk Noahs, aber ich war überzeugt, daß ihn der Krug mehr als überwältigen werde.
Da kam der Wirt mit zwei Krügen, von denen jeder vielleicht einen Liter faßte. Hm, armer Selim Agha! Ich verſuchte einen Schluck. Der Wein hatte auf der Reiſe gelitten, ließ ſich aber trinken.
„Nun, Hoheit, wie iſt er?“ fragte der Jude.
„Er iſt ſo, daß ich dir für den Krug zwanzig Piaſter geben werde.“
„Herr, das iſt geboten zu wenig, viel zu wenig! Für zwanzig Piaſter werde ich wieder mitnehmen meinen Wein und dir bringen einen andern.“
„Im Lande, wo er bereitet wird, gebe ich nach hie- ſigem Gelde für dieſen Krug vier Piaſter. Du ſiehſt, ich will gut bezahlen, aber wenn dir das nicht genügt, ſo nimm ihn wieder mit!“
Ich ſtand auf.
„Was ſoll ich bringen für welchen?“
„Keinen! Ich trinke nur dieſen für zwanzig Piaſter, den du mir auch für fünfzehn ließeſt. Bekomme ich ihn nicht, ſo gehe ich, und du magſt ihn ſelbſt trinken.“
„So wird ihn trinken die Hoheit des Selim Agha.“
„Er wird mit mir gehen.“
„Gieb neunundzwanzig!“
„Nein.“
„Achtundzwanzig!“
„Gute Nacht, Alter!“
Ich öffnete die Thüre.
„Komm her, Effendi! Du ſollſt ihn doch haben für
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Es iſt ein roter, dicker und ungemein ſtarker Naturtrank,
von dem drei Schluck genügen, um einen Menſchen, der
noch nie Wein getrunken hat, in einen gelinden Rauſch
zu verſetzen. Selim liebte das Getränk Noahs, aber ich
war überzeugt, daß ihn der Krug mehr als überwältigen
werde.
Da kam der Wirt mit zwei Krügen, von denen jeder
vielleicht einen Liter faßte. Hm, armer Selim Agha! Ich
verſuchte einen Schluck. Der Wein hatte auf der Reiſe
gelitten, ließ ſich aber trinken.
„Nun, Hoheit, wie iſt er?“ fragte der Jude.
„Er iſt ſo, daß ich dir für den Krug zwanzig Piaſter
geben werde.“
„Herr, das iſt geboten zu wenig, viel zu wenig! Für
zwanzig Piaſter werde ich wieder mitnehmen meinen Wein
und dir bringen einen andern.“
„Im Lande, wo er bereitet wird, gebe ich nach hie-
ſigem Gelde für dieſen Krug vier Piaſter. Du ſiehſt, ich
will gut bezahlen, aber wenn dir das nicht genügt, ſo
nimm ihn wieder mit!“
Ich ſtand auf.
„Was ſoll ich bringen für welchen?“
„Keinen! Ich trinke nur dieſen für zwanzig Piaſter,
den du mir auch für fünfzehn ließeſt. Bekomme ich ihn
nicht, ſo gehe ich, und du magſt ihn ſelbſt trinken.“
„So wird ihn trinken die Hoheit des Selim Agha.“
„Er wird mit mir gehen.“
„Gieb neunundzwanzig!“
„Nein.“
„Achtundzwanzig!“
„Gute Nacht, Alter!“
Ich öffnete die Thüre.
„Komm her, Effendi! Du ſollſt ihn doch haben für
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/246>, abgerufen am 26.11.2024.
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