"Nein, sie ist niemals krank gewesen bis auf den heutigen Tag."
"Was thut der böse Geist mit ihr?"
"Er ist ihr in den Mund gefahren, denn sie klagte, daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund ist rot und auch ihr Gesicht, und nun liegt sie da und redet von den Schönheiten des Himmels, in den sie blicken kann."
Hier war schleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden- falls eine Vergiftung vor.
"Ich will sehen, ob ich dir helfen kann. Wohnest du weit von hier?"
"Nein."
"Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?"
"Nein."
"So komm schnell!"
Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gassen und dann in ein Haus, dessen Aeußeres eine gewisse Stattlichkeit zeigte. Der Besitzer desselben konnte nicht zu den ärmeren Leuten gehören. Wir passierten zwei Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem niedrigen Polster lag ein Mädchen lang ausgestreckt auf dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der seinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke gerichtet, laute Gebete murmelte.
"Bist du der Hekim?" fragte ich ihn.
"Ja."
"Was fehlt dieser Kranken?"
"Der Teufel ist in sie gefahren, Herr!"
„Sechzehn Jahre.“
„Leidet ſie an Krämpfen oder Fallſucht?“
„Nein, ſie iſt niemals krank geweſen bis auf den heutigen Tag.“
„Was thut der böſe Geiſt mit ihr?“
„Er iſt ihr in den Mund gefahren, denn ſie klagte, daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund iſt rot und auch ihr Geſicht, und nun liegt ſie da und redet von den Schönheiten des Himmels, in den ſie blicken kann.“
Hier war ſchleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden- falls eine Vergiftung vor.
„Ich will ſehen, ob ich dir helfen kann. Wohneſt du weit von hier?“
„Nein.“
„Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?“
„Nein.“
„So komm ſchnell!“
Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gaſſen und dann in ein Haus, deſſen Aeußeres eine gewiſſe Stattlichkeit zeigte. Der Beſitzer desſelben konnte nicht zu den ärmeren Leuten gehören. Wir paſſierten zwei Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem niedrigen Polſter lag ein Mädchen lang ausgeſtreckt auf dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der ſeinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke gerichtet, laute Gebete murmelte.
„Biſt du der Hekim?“ fragte ich ihn.
„Ja.“
„Was fehlt dieſer Kranken?“
„Der Teufel iſt in ſie gefahren, Herr!“
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[206/0220]
„Sechzehn Jahre.“
„Leidet ſie an Krämpfen oder Fallſucht?“
„Nein, ſie iſt niemals krank geweſen bis auf den
heutigen Tag.“
„Was thut der böſe Geiſt mit ihr?“
„Er iſt ihr in den Mund gefahren, denn ſie klagte,
daß er ihr den Hals zerkratze; dann machte er ihr die
Augen größer, damit er herausgucken könne. Ihr Mund
iſt rot und auch ihr Geſicht, und nun liegt ſie da und
redet von den Schönheiten des Himmels, in den ſie
blicken kann.“
Hier war ſchleunige Hilfe nötig, denn es lag jeden-
falls eine Vergiftung vor.
„Ich will ſehen, ob ich dir helfen kann. Wohneſt
du weit von hier?“
„Nein.“
„Giebt es außer dem alten Hekim noch einen Arzt?“
„Nein.“
„So komm ſchnell!“
Wir eilten fort. Er führte mich durch drei Gaſſen
und dann in ein Haus, deſſen Aeußeres eine gewiſſe
Stattlichkeit zeigte. Der Beſitzer desſelben konnte nicht
zu den ärmeren Leuten gehören. Wir paſſierten zwei
Zimmer und traten dann in ein drittes. Auf einem
niedrigen Polſter lag ein Mädchen lang ausgeſtreckt auf
dem Rücken. An ihrer Seite knieten einige weinende
Frauen, und in der Nähe hockte ein alter Mann, der
ſeinen Turban abgenommen hatte und, gegen die Kranke
gerichtet, laute Gebete murmelte.
„Biſt du der Hekim?“ fragte ich ihn.
„Ja.“
„Was fehlt dieſer Kranken?“
„Der Teufel iſt in ſie gefahren, Herr!“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/220>, abgerufen am 23.12.2024.
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