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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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talische Zurückhaltung ganz vergaß und sich das Geschenk
reichen ließ, um es zu betrachten.

"O wie herrlich, wie kostbar!" rief er aus und ließ
das Armband ringsum von Hand zu Hand gehen. "Das
ist Bernstein, so guter, prächtiger Bernstein, wie ihn der
Sultan nicht köstlicher an seiner Pfeife trägt! Meine
Tochter, dein Vater kann dir keine solche Hochzeitsgabe
schenken, wie sie dieser Emir dir gegeben hat. Aus seinem
Munde ertönt die Stimme der Weisheit, und von den
Haaren seines Schnurrbartes träufelt die Güte. Frage
ihn, ob er es dir erlaubt, ihm so zu danken, wie eine
Tochter ihrem Vater dankt!"

Sie errötete noch mehr als vorhin; aber sie fragte
dennoch:

"Erlaubst du es, Herr?"

"Ich erlaube es."

Da bog sie sich zu mir, der ich auf dem Boden saß,
hernieder und küßte mich auf den Mund und auf die
beiden Wangen; dann aber eilte sie schnell davon.

Ich war über diese Art, seine Dankbarkeit zu be-
weisen, nicht erstaunt; denn ich wußte, daß es den
Mädchen der Kurden erlaubt ist, Bekannte auch mit
einem Kusse zu begrüßen. Einem höher Stehenden gegen-
über würde eine solche Vertraulichkeit eine Beleidigung
sein, und daher hatte ich eigentlich meine Güte verdoppelt,
indem ich den Kuß gestattete. Dies sprach der Vorsteher
auch sofort aus.

"Emir, deine Gnade erleuchtet mein Haus, wie das
Licht der Sonne die Erde erwärmt. Du hast meine
Tochter begnadigt, damit sie sich deiner erinnern möge;
erlaube, daß auch ich dir ein Andenken verehre, damit
du Spandareh nicht vergessen mögest!"

Er bog sich über die Kante des Daches vor und rief

taliſche Zurückhaltung ganz vergaß und ſich das Geſchenk
reichen ließ, um es zu betrachten.

„O wie herrlich, wie koſtbar!“ rief er aus und ließ
das Armband ringsum von Hand zu Hand gehen. „Das
iſt Bernſtein, ſo guter, prächtiger Bernſtein, wie ihn der
Sultan nicht köſtlicher an ſeiner Pfeife trägt! Meine
Tochter, dein Vater kann dir keine ſolche Hochzeitsgabe
ſchenken, wie ſie dieſer Emir dir gegeben hat. Aus ſeinem
Munde ertönt die Stimme der Weisheit, und von den
Haaren ſeines Schnurrbartes träufelt die Güte. Frage
ihn, ob er es dir erlaubt, ihm ſo zu danken, wie eine
Tochter ihrem Vater dankt!“

Sie errötete noch mehr als vorhin; aber ſie fragte
dennoch:

„Erlaubſt du es, Herr?“

„Ich erlaube es.“

Da bog ſie ſich zu mir, der ich auf dem Boden ſaß,
hernieder und küßte mich auf den Mund und auf die
beiden Wangen; dann aber eilte ſie ſchnell davon.

Ich war über dieſe Art, ſeine Dankbarkeit zu be-
weiſen, nicht erſtaunt; denn ich wußte, daß es den
Mädchen der Kurden erlaubt iſt, Bekannte auch mit
einem Kuſſe zu begrüßen. Einem höher Stehenden gegen-
über würde eine ſolche Vertraulichkeit eine Beleidigung
ſein, und daher hatte ich eigentlich meine Güte verdoppelt,
indem ich den Kuß geſtattete. Dies ſprach der Vorſteher
auch ſofort aus.

„Emir, deine Gnade erleuchtet mein Haus, wie das
Licht der Sonne die Erde erwärmt. Du haſt meine
Tochter begnadigt, damit ſie ſich deiner erinnern möge;
erlaube, daß auch ich dir ein Andenken verehre, damit
du Spandareh nicht vergeſſen mögeſt!“

Er bog ſich über die Kante des Daches vor und rief

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[139/0153] taliſche Zurückhaltung ganz vergaß und ſich das Geſchenk reichen ließ, um es zu betrachten. „O wie herrlich, wie koſtbar!“ rief er aus und ließ das Armband ringsum von Hand zu Hand gehen. „Das iſt Bernſtein, ſo guter, prächtiger Bernſtein, wie ihn der Sultan nicht köſtlicher an ſeiner Pfeife trägt! Meine Tochter, dein Vater kann dir keine ſolche Hochzeitsgabe ſchenken, wie ſie dieſer Emir dir gegeben hat. Aus ſeinem Munde ertönt die Stimme der Weisheit, und von den Haaren ſeines Schnurrbartes träufelt die Güte. Frage ihn, ob er es dir erlaubt, ihm ſo zu danken, wie eine Tochter ihrem Vater dankt!“ Sie errötete noch mehr als vorhin; aber ſie fragte dennoch: „Erlaubſt du es, Herr?“ „Ich erlaube es.“ Da bog ſie ſich zu mir, der ich auf dem Boden ſaß, hernieder und küßte mich auf den Mund und auf die beiden Wangen; dann aber eilte ſie ſchnell davon. Ich war über dieſe Art, ſeine Dankbarkeit zu be- weiſen, nicht erſtaunt; denn ich wußte, daß es den Mädchen der Kurden erlaubt iſt, Bekannte auch mit einem Kuſſe zu begrüßen. Einem höher Stehenden gegen- über würde eine ſolche Vertraulichkeit eine Beleidigung ſein, und daher hatte ich eigentlich meine Güte verdoppelt, indem ich den Kuß geſtattete. Dies ſprach der Vorſteher auch ſofort aus. „Emir, deine Gnade erleuchtet mein Haus, wie das Licht der Sonne die Erde erwärmt. Du haſt meine Tochter begnadigt, damit ſie ſich deiner erinnern möge; erlaube, daß auch ich dir ein Andenken verehre, damit du Spandareh nicht vergeſſen mögeſt!“ Er bog ſich über die Kante des Daches vor und rief

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/153>, abgerufen am 25.11.2024.