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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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über den ganzen asiatischen Kontinent zerstreut, von den
Küsten des kaspischen Meeres bis zu den chinesischen Seen
und von den allernördlichsten Grenzen Skythiens bis zum
äußersten südlichen Ende der indischen Halbinsel. Sie
waren die Ratgeber Mohammeds und seiner Nachfolger.
Die christlichen Anklänge des Kuran sind meist ihren
Büchern und Lehren entnommen. Aber mit dem Falle
der Khalifen brach auch ihre Macht zusammen und zwar
mit reißender Schnelligkeit; denn ihre innere, geistliche
Konstitution entbehrte der göttlichen Reinheit, welche die
Kraft eines unbesiegbaren Widerstandes verleiht. Bereits
unter der Regierung des Kassan, der ein Sohn des Arghun
und ein Enkel des berühmten Eroberers von Baghdad,
Hulaku Khan, war, begannen die Verfolgungen gegen sie.
Dann aber brach der große Tamerlan unbarmherzig über
sie herein. Mit unersättlicher Wut verfolgte er sie, zer-
störte ihre Kirchen und brachte alle, denen es nicht gelang,
in die unzugänglichen Berge Kurdistans zu entkommen,
mit dem Schwerte um. Die Urenkel dieser Entkommenen
leben noch heute an Plätzen, die Festungen verglichen
werden können. Sie, die Ueberreste des einst so mächtigen
assyrischen Volkes, sehen allzeit das Schwert der Türken
und den Dolch der Kurden über sich schweben und haben
in neuerer Zeit Grausamkeiten zu ertragen gehabt, bei
deren Erzählung sich die Haare sträuben. Einen großen
Teil der Schuld daran haben jedenfalls jene überseeischen
Missionäre zu tragen, die ihren Schul- und Bethäusern
das Ansehen von Fortifikationen gaben und dadurch das
Mißtrauen der dortigen Machthaber erweckten. Damit
und durch ähnliche Unvorsichtigkeiten haben sie sowohl
ihrem Werke als auch den Anhängern desselben gleich
großen Schaden bereitet.

Auf meinem Ritt nach Amadijah kam ich voraus-

II. 8

über den ganzen aſiatiſchen Kontinent zerſtreut, von den
Küſten des kaſpiſchen Meeres bis zu den chineſiſchen Seen
und von den allernördlichſten Grenzen Skythiens bis zum
äußerſten ſüdlichen Ende der indiſchen Halbinſel. Sie
waren die Ratgeber Mohammeds und ſeiner Nachfolger.
Die chriſtlichen Anklänge des Kuran ſind meiſt ihren
Büchern und Lehren entnommen. Aber mit dem Falle
der Khalifen brach auch ihre Macht zuſammen und zwar
mit reißender Schnelligkeit; denn ihre innere, geiſtliche
Konſtitution entbehrte der göttlichen Reinheit, welche die
Kraft eines unbeſiegbaren Widerſtandes verleiht. Bereits
unter der Regierung des Kaſſan, der ein Sohn des Arghun
und ein Enkel des berühmten Eroberers von Baghdad,
Hulaku Khan, war, begannen die Verfolgungen gegen ſie.
Dann aber brach der große Tamerlan unbarmherzig über
ſie herein. Mit unerſättlicher Wut verfolgte er ſie, zer-
ſtörte ihre Kirchen und brachte alle, denen es nicht gelang,
in die unzugänglichen Berge Kurdiſtans zu entkommen,
mit dem Schwerte um. Die Urenkel dieſer Entkommenen
leben noch heute an Plätzen, die Feſtungen verglichen
werden können. Sie, die Ueberreſte des einſt ſo mächtigen
aſſyriſchen Volkes, ſehen allzeit das Schwert der Türken
und den Dolch der Kurden über ſich ſchweben und haben
in neuerer Zeit Grauſamkeiten zu ertragen gehabt, bei
deren Erzählung ſich die Haare ſträuben. Einen großen
Teil der Schuld daran haben jedenfalls jene überſeeiſchen
Miſſionäre zu tragen, die ihren Schul- und Bethäuſern
das Anſehen von Fortifikationen gaben und dadurch das
Mißtrauen der dortigen Machthaber erweckten. Damit
und durch ähnliche Unvorſichtigkeiten haben ſie ſowohl
ihrem Werke als auch den Anhängern desſelben gleich
großen Schaden bereitet.

Auf meinem Ritt nach Amadijah kam ich voraus-

II. 8
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[113/0127] über den ganzen aſiatiſchen Kontinent zerſtreut, von den Küſten des kaſpiſchen Meeres bis zu den chineſiſchen Seen und von den allernördlichſten Grenzen Skythiens bis zum äußerſten ſüdlichen Ende der indiſchen Halbinſel. Sie waren die Ratgeber Mohammeds und ſeiner Nachfolger. Die chriſtlichen Anklänge des Kuran ſind meiſt ihren Büchern und Lehren entnommen. Aber mit dem Falle der Khalifen brach auch ihre Macht zuſammen und zwar mit reißender Schnelligkeit; denn ihre innere, geiſtliche Konſtitution entbehrte der göttlichen Reinheit, welche die Kraft eines unbeſiegbaren Widerſtandes verleiht. Bereits unter der Regierung des Kaſſan, der ein Sohn des Arghun und ein Enkel des berühmten Eroberers von Baghdad, Hulaku Khan, war, begannen die Verfolgungen gegen ſie. Dann aber brach der große Tamerlan unbarmherzig über ſie herein. Mit unerſättlicher Wut verfolgte er ſie, zer- ſtörte ihre Kirchen und brachte alle, denen es nicht gelang, in die unzugänglichen Berge Kurdiſtans zu entkommen, mit dem Schwerte um. Die Urenkel dieſer Entkommenen leben noch heute an Plätzen, die Feſtungen verglichen werden können. Sie, die Ueberreſte des einſt ſo mächtigen aſſyriſchen Volkes, ſehen allzeit das Schwert der Türken und den Dolch der Kurden über ſich ſchweben und haben in neuerer Zeit Grauſamkeiten zu ertragen gehabt, bei deren Erzählung ſich die Haare ſträuben. Einen großen Teil der Schuld daran haben jedenfalls jene überſeeiſchen Miſſionäre zu tragen, die ihren Schul- und Bethäuſern das Anſehen von Fortifikationen gaben und dadurch das Mißtrauen der dortigen Machthaber erweckten. Damit und durch ähnliche Unvorſichtigkeiten haben ſie ſowohl ihrem Werke als auch den Anhängern desſelben gleich großen Schaden bereitet. Auf meinem Ritt nach Amadijah kam ich voraus- II. 8

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/127>, abgerufen am 28.11.2024.