Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

gepflegt als bei euch, und darum haben wir auch bessere
Mittel als ihr. Wir kennen viele Arten von geheimen
Schriften, welche sehr schwer zu entdecken sind; die euren
aber sind so einfach, daß keine große Klugheit dazu gehört,
eure unsichtbaren Worte sichtbar zu machen. Rate einmal,
womit diese Worte geschrieben worden sind."

"Sage es!"

"Mit Harn."

"Unmöglich!"

"Wenn du mit dem Harne eines Tieres oder eines
Menschen schreibst, so verschwindet die Schrift, sobald sie
eingetrocknet ist. Hältst du das Papier dann über das
Feuer, so werden die Züge schwarz, und du kannst sie
lesen."

"Wie lauten diese Worte?"

Ich komme übermorgen, um zu siegen."

"Ist dies wahr? Irrest du dich nicht?"

"Hier steht es deutlich!"

"Wohlan, so gieb mir diesen Brief!"

Er ging in großer Erregung einige Male auf und
ab; dann blieb er wieder vor mir stehen.

"Ist dies Verrat oder nicht, Emir?"

"Es ist Heimtücke."

"Soll ich diesen Mutessarif vernichten? Es liegt in
meiner Hand!"

"Du wirst es dann mit dem Padischah zu thun be-
kommen!"

"Effendi, die Russen haben ein Wort, welches lautet:
,der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit.' So ist es
auch mit dem Padischah. Ich werde siegen!"

"Aber du wirst viel Blut vergießen. Sagtest du mir
nicht kürzlich, daß du den Frieden liebst?"

"Ich liebe ihn, aber man soll ihn mir auch lassen!

gepflegt als bei euch, und darum haben wir auch beſſere
Mittel als ihr. Wir kennen viele Arten von geheimen
Schriften, welche ſehr ſchwer zu entdecken ſind; die euren
aber ſind ſo einfach, daß keine große Klugheit dazu gehört,
eure unſichtbaren Worte ſichtbar zu machen. Rate einmal,
womit dieſe Worte geſchrieben worden ſind.“

„Sage es!“

„Mit Harn.“

„Unmöglich!“

„Wenn du mit dem Harne eines Tieres oder eines
Menſchen ſchreibſt, ſo verſchwindet die Schrift, ſobald ſie
eingetrocknet iſt. Hältſt du das Papier dann über das
Feuer, ſo werden die Züge ſchwarz, und du kannſt ſie
leſen.“

„Wie lauten dieſe Worte?“

Ich komme übermorgen, um zu ſiegen.“

„Iſt dies wahr? Irreſt du dich nicht?“

„Hier ſteht es deutlich!“

„Wohlan, ſo gieb mir dieſen Brief!“

Er ging in großer Erregung einige Male auf und
ab; dann blieb er wieder vor mir ſtehen.

„Iſt dies Verrat oder nicht, Emir?“

„Es iſt Heimtücke.“

„Soll ich dieſen Muteſſarif vernichten? Es liegt in
meiner Hand!“

„Du wirſt es dann mit dem Padiſchah zu thun be-
kommen!“

„Effendi, die Ruſſen haben ein Wort, welches lautet:
‚der Himmel iſt hoch, und der Zar iſt weit.‘ So iſt es
auch mit dem Padiſchah. Ich werde ſiegen!“

„Aber du wirſt viel Blut vergießen. Sagteſt du mir
nicht kürzlich, daß du den Frieden liebſt?“

„Ich liebe ihn, aber man ſoll ihn mir auch laſſen!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="95"/>
gepflegt als bei euch, und darum haben wir auch be&#x017F;&#x017F;ere<lb/>
Mittel als ihr. Wir kennen viele Arten von geheimen<lb/>
Schriften, welche &#x017F;ehr &#x017F;chwer zu entdecken &#x017F;ind; die euren<lb/>
aber &#x017F;ind &#x017F;o einfach, daß keine große Klugheit dazu gehört,<lb/>
eure un&#x017F;ichtbaren Worte &#x017F;ichtbar zu machen. Rate einmal,<lb/>
womit die&#x017F;e Worte ge&#x017F;chrieben worden &#x017F;ind.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sage es!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mit Harn.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Unmöglich!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wenn du mit dem Harne eines Tieres oder eines<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;chreib&#x017F;t, &#x017F;o ver&#x017F;chwindet die Schrift, &#x017F;obald &#x017F;ie<lb/>
eingetrocknet i&#x017F;t. Hält&#x017F;t du das Papier dann über das<lb/>
Feuer, &#x017F;o werden die Züge &#x017F;chwarz, und du kann&#x017F;t &#x017F;ie<lb/>
le&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wie lauten die&#x017F;e Worte?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich komme übermorgen, um zu &#x017F;iegen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;I&#x017F;t dies wahr? Irre&#x017F;t du dich nicht?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hier &#x017F;teht es deutlich!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wohlan, &#x017F;o gieb mir die&#x017F;en Brief!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er ging in großer Erregung einige Male auf und<lb/>
ab; dann blieb er wieder vor mir &#x017F;tehen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;I&#x017F;t dies Verrat oder nicht, Emir?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es i&#x017F;t Heimtücke.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Soll ich die&#x017F;en Mute&#x017F;&#x017F;arif vernichten? Es liegt in<lb/>
meiner Hand!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du wir&#x017F;t es dann mit dem Padi&#x017F;chah zu thun be-<lb/>
kommen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Effendi, die Ru&#x017F;&#x017F;en haben ein Wort, welches lautet:<lb/>
&#x201A;der Himmel i&#x017F;t hoch, und der Zar i&#x017F;t weit.&#x2018; So i&#x017F;t es<lb/>
auch mit dem Padi&#x017F;chah. Ich werde &#x017F;iegen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber du wir&#x017F;t viel Blut vergießen. Sagte&#x017F;t du mir<lb/>
nicht kürzlich, daß du den Frieden lieb&#x017F;t?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich liebe ihn, aber man &#x017F;oll ihn mir auch la&#x017F;&#x017F;en!</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0109] gepflegt als bei euch, und darum haben wir auch beſſere Mittel als ihr. Wir kennen viele Arten von geheimen Schriften, welche ſehr ſchwer zu entdecken ſind; die euren aber ſind ſo einfach, daß keine große Klugheit dazu gehört, eure unſichtbaren Worte ſichtbar zu machen. Rate einmal, womit dieſe Worte geſchrieben worden ſind.“ „Sage es!“ „Mit Harn.“ „Unmöglich!“ „Wenn du mit dem Harne eines Tieres oder eines Menſchen ſchreibſt, ſo verſchwindet die Schrift, ſobald ſie eingetrocknet iſt. Hältſt du das Papier dann über das Feuer, ſo werden die Züge ſchwarz, und du kannſt ſie leſen.“ „Wie lauten dieſe Worte?“ Ich komme übermorgen, um zu ſiegen.“ „Iſt dies wahr? Irreſt du dich nicht?“ „Hier ſteht es deutlich!“ „Wohlan, ſo gieb mir dieſen Brief!“ Er ging in großer Erregung einige Male auf und ab; dann blieb er wieder vor mir ſtehen. „Iſt dies Verrat oder nicht, Emir?“ „Es iſt Heimtücke.“ „Soll ich dieſen Muteſſarif vernichten? Es liegt in meiner Hand!“ „Du wirſt es dann mit dem Padiſchah zu thun be- kommen!“ „Effendi, die Ruſſen haben ein Wort, welches lautet: ‚der Himmel iſt hoch, und der Zar iſt weit.‘ So iſt es auch mit dem Padiſchah. Ich werde ſiegen!“ „Aber du wirſt viel Blut vergießen. Sagteſt du mir nicht kürzlich, daß du den Frieden liebſt?“ „Ich liebe ihn, aber man ſoll ihn mir auch laſſen!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/109
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/109>, abgerufen am 23.12.2024.