Sonne; ich konnte nichts Auffälliges bemerken. Ich be- fühlte und beroch es, aber ohne Erfolg. Nun hielt ich es wagrecht so, daß ich die darauf fallenden Sonnen- strahlen mit dem Auge auffing, und da endlich zeigten sich mir mehrere, allerdings nur einem sehr scharfen Blicke bemerkbare Stellen, welche zwar mit der Farbe des Papiers beinahe verschwammen, aber dennoch die Gestalt von Schriftzeichen zu haben schienen.
"Du wirst das Papier nicht bekommen!" sagte ich zum Kaimakam.
"Warum nicht?"
"Weil es eine geheime Schrift enthält, welche ich untersuchen werde."
Er verfärbte sich.
"Du irrst, Effendi!"
"Ich sehe es genau!" Und um ihn zu versuchen, fügte ich hinzu: "Diese geheime Schrift wird zu lesen sein, wenn ich das Papier in das Wasser halte."
"Thue es!" antwortete er mit einer sichtbaren Genug- thuung.
"Du hast dich durch die Ruhe deiner Worte verraten, Kaimakam. Ich werde das Papier nun nicht in das Wasser, sondern über das Feuer halten."
Ich hatte es getroffen; das erkannte ich an dem nicht ganz unterdrückten Erschrecken, welches sein zu offenes Gesicht überflog.
"Du wirst den Brief ja dabei verbrennen und zer- stören!" mahnte er.
"Trage keine Sorge! Ein Effendi aus dem Abend- lande weiß mit solchen Dingen recht wohl umzugehen."
Der Bey war ganz erstaunt.
"Glaubst du wirklich, daß dieser Brief eine verbor- gene Schrift enthält?"
Sonne; ich konnte nichts Auffälliges bemerken. Ich be- fühlte und beroch es, aber ohne Erfolg. Nun hielt ich es wagrecht ſo, daß ich die darauf fallenden Sonnen- ſtrahlen mit dem Auge auffing, und da endlich zeigten ſich mir mehrere, allerdings nur einem ſehr ſcharfen Blicke bemerkbare Stellen, welche zwar mit der Farbe des Papiers beinahe verſchwammen, aber dennoch die Geſtalt von Schriftzeichen zu haben ſchienen.
„Du wirſt das Papier nicht bekommen!“ ſagte ich zum Kaimakam.
„Warum nicht?“
„Weil es eine geheime Schrift enthält, welche ich unterſuchen werde.“
Er verfärbte ſich.
„Du irrſt, Effendi!“
„Ich ſehe es genau!“ Und um ihn zu verſuchen, fügte ich hinzu: „Dieſe geheime Schrift wird zu leſen ſein, wenn ich das Papier in das Waſſer halte.“
„Thue es!“ antwortete er mit einer ſichtbaren Genug- thuung.
„Du haſt dich durch die Ruhe deiner Worte verraten, Kaimakam. Ich werde das Papier nun nicht in das Waſſer, ſondern über das Feuer halten.“
Ich hatte es getroffen; das erkannte ich an dem nicht ganz unterdrückten Erſchrecken, welches ſein zu offenes Geſicht überflog.
„Du wirſt den Brief ja dabei verbrennen und zer- ſtören!“ mahnte er.
„Trage keine Sorge! Ein Effendi aus dem Abend- lande weiß mit ſolchen Dingen recht wohl umzugehen.“
Der Bey war ganz erſtaunt.
„Glaubſt du wirklich, daß dieſer Brief eine verbor- gene Schrift enthält?“
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Sonne; ich konnte nichts Auffälliges bemerken. Ich be-
fühlte und beroch es, aber ohne Erfolg. Nun hielt ich
es wagrecht ſo, daß ich die darauf fallenden Sonnen-
ſtrahlen mit dem Auge auffing, und da endlich zeigten ſich
mir mehrere, allerdings nur einem ſehr ſcharfen Blicke
bemerkbare Stellen, welche zwar mit der Farbe des Papiers
beinahe verſchwammen, aber dennoch die Geſtalt von
Schriftzeichen zu haben ſchienen.
„Du wirſt das Papier nicht bekommen!“ ſagte ich
zum Kaimakam.
„Warum nicht?“
„Weil es eine geheime Schrift enthält, welche ich
unterſuchen werde.“
Er verfärbte ſich.
„Du irrſt, Effendi!“
„Ich ſehe es genau!“ Und um ihn zu verſuchen, fügte
ich hinzu: „Dieſe geheime Schrift wird zu leſen ſein, wenn
ich das Papier in das Waſſer halte.“
„Thue es!“ antwortete er mit einer ſichtbaren Genug-
thuung.
„Du haſt dich durch die Ruhe deiner Worte verraten,
Kaimakam. Ich werde das Papier nun nicht in das
Waſſer, ſondern über das Feuer halten.“
Ich hatte es getroffen; das erkannte ich an dem nicht
ganz unterdrückten Erſchrecken, welches ſein zu offenes
Geſicht überflog.
„Du wirſt den Brief ja dabei verbrennen und zer-
ſtören!“ mahnte er.
„Trage keine Sorge! Ein Effendi aus dem Abend-
lande weiß mit ſolchen Dingen recht wohl umzugehen.“
Der Bey war ganz erſtaunt.
„Glaubſt du wirklich, daß dieſer Brief eine verbor-
gene Schrift enthält?“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/107>, abgerufen am 25.11.2024.
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