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Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867.

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seiner ganzen Familie in einem Hinterzimmer sitzend. Das Zimmer war
noch nicht ganz von Möbeln entblösst und es war Feuer darin. Diess
war nöthig, um die nackten Füsse der jungen Kinder vor Frost zu
schützen, denn es war ein grimmig kalter Tag. Auf einem Teller gegen-
über dem Feuer lag ein Quantum Werg, welches Frau und Kinder zupften
in Erstattung des Brods vom Workhouse. Der Mann arbeitete in einem
der oben beschriebenen Höfe für ein Brodbillet und 3 d. per Tag. Er
kam jetzt nach Haus zum Mittagsessen, sehr hungrig, wie er uns mit
einem bittern Lächeln sagte, und sein Mittagsessen bestand aus einigen
Brodschnitten mit Schmalz und einer Tasse milchlosen Thees ... Die
nächste Thüre, an der wir anklopften, wurde geöffnet durch ein Frauen-
zimmer mittleren Alters, die, ohne ein Wort zu sagen, uns in ein kleines
Hinterzimmer führte, wo ihre ganze Familie sass, schweigend, die Augen
auf ein rasch ersterbendes Feuer geheftet. Solche Verödung, solche Hoff-
nungslosigkeit hing um diese Leute und ihr kleines Zimmer, dass ich nicht
wünsche je eine ähnliche Scene wieder zu sehn. "Nichts haben sie ver-
dient, mein Herr", sagte die Frau, auf ihre Jungen zeigend, "nichts für
26 Wochen, und all unser Geld ist hingegangen, alles Geld, das ich und
der Vater in den bessern Zeiten zurücklegten, in dem Wahn eine Reserve
während schlechten Geschäfts zu sichern. Sehn Sie es", schrie sie fast wild, in-
dem sie ein Bankbuch hervorholte mit allen seinen regelmässigen Nachweisen
über eingezahltes und rückerhaltnes Geld, so dass wir sehn konnten, wie das
kleine Vermögen begonnen hatte mit dem ersten Deposit von 5 Shilling, wie
es nach und nach zu 20 Pfd. St. aufwuchs, und dann wieder zusammen-
schmolz, von Pfunden zu Shillingen, bis der letzte Eintrag das Buch so
werthlos machte, wie ein blankes Stück Papier. Diese Familie erhielt
ein nothdürftiges Mahl täglich vom Workhouse ... Unsre folgende Visite
war zur Frau eines Irländers, der an den Schiffswerften gearbeitet hatte.
Wir fanden sie krank von Nahrungsmangel, in ihren Kleidern auf eine
Matratze gestreckt, knapp bedeckt mit einem Stück Teppich, denn alles
Bettzeug war im Pfandhaus. Die elenden Kinder warteten sie und sahen
aus als bedürften sie umgekehrt der mütterlichen Pflege. Neunzehn
Wochen erzwungnen Müssiggangs hatten sie so weit heruntergebracht,
und während sie die Geschichte der bitteren Vergangenheit erzählte,
stöhnte sie als ob alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren wäre
... Beim Austritt aus dem Hause rannte ein junger Mann auf uns zu und

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seiner ganzen Familie in einem Hinterzimmer sitzend. Das Zimmer war
noch nicht ganz von Möbeln entblösst und es war Feuer darin. Diess
war nöthig, um die nackten Füsse der jungen Kinder vor Frost zu
schützen, denn es war ein grimmig kalter Tag. Auf einem Teller gegen-
über dem Feuer lag ein Quantum Werg, welches Frau und Kinder zupften
in Erstattung des Brods vom Workhouse. Der Mann arbeitete in einem
der oben beschriebenen Höfe für ein Brodbillet und 3 d. per Tag. Er
kam jetzt nach Haus zum Mittagsessen, sehr hungrig, wie er uns mit
einem bittern Lächeln sagte, und sein Mittagsessen bestand aus einigen
Brodschnitten mit Schmalz und einer Tasse milchlosen Thees … Die
nächste Thüre, an der wir anklopften, wurde geöffnet durch ein Frauen-
zimmer mittleren Alters, die, ohne ein Wort zu sagen, uns in ein kleines
Hinterzimmer führte, wo ihre ganze Familie sass, schweigend, die Augen
auf ein rasch ersterbendes Feuer geheftet. Solche Verödung, solche Hoff-
nungslosigkeit hing um diese Leute und ihr kleines Zimmer, dass ich nicht
wünsche je eine ähnliche Scene wieder zu sehn. „Nichts haben sie ver-
dient, mein Herr“, sagte die Frau, auf ihre Jungen zeigend, „nichts für
26 Wochen, und all unser Geld ist hingegangen, alles Geld, das ich und
der Vater in den bessern Zeiten zurücklegten, in dem Wahn eine Reserve
während schlechten Geschäfts zu sichern. Sehn Sie es“, schrie sie fast wild, in-
dem sie ein Bankbuch hervorholte mit allen seinen regelmässigen Nachweisen
über eingezahltes und rückerhaltnes Geld, so dass wir sehn konnten, wie das
kleine Vermögen begonnen hatte mit dem ersten Deposit von 5 Shilling, wie
es nach und nach zu 20 Pfd. St. aufwuchs, und dann wieder zusammen-
schmolz, von Pfunden zu Shillingen, bis der letzte Eintrag das Buch so
werthlos machte, wie ein blankes Stück Papier. Diese Familie erhielt
ein nothdürftiges Mahl täglich vom Workhouse … Unsre folgende Visite
war zur Frau eines Irländers, der an den Schiffswerften gearbeitet hatte.
Wir fanden sie krank von Nahrungsmangel, in ihren Kleidern auf eine
Matratze gestreckt, knapp bedeckt mit einem Stück Teppich, denn alles
Bettzeug war im Pfandhaus. Die elenden Kinder warteten sie und sahen
aus als bedürften sie umgekehrt der mütterlichen Pflege. Neunzehn
Wochen erzwungnen Müssiggangs hatten sie so weit heruntergebracht,
und während sie die Geschichte der bitteren Vergangenheit erzählte,
stöhnte sie als ob alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren wäre
… Beim Austritt aus dem Hause rannte ein junger Mann auf uns zu und

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[659/0678] seiner ganzen Familie in einem Hinterzimmer sitzend. Das Zimmer war noch nicht ganz von Möbeln entblösst und es war Feuer darin. Diess war nöthig, um die nackten Füsse der jungen Kinder vor Frost zu schützen, denn es war ein grimmig kalter Tag. Auf einem Teller gegen- über dem Feuer lag ein Quantum Werg, welches Frau und Kinder zupften in Erstattung des Brods vom Workhouse. Der Mann arbeitete in einem der oben beschriebenen Höfe für ein Brodbillet und 3 d. per Tag. Er kam jetzt nach Haus zum Mittagsessen, sehr hungrig, wie er uns mit einem bittern Lächeln sagte, und sein Mittagsessen bestand aus einigen Brodschnitten mit Schmalz und einer Tasse milchlosen Thees … Die nächste Thüre, an der wir anklopften, wurde geöffnet durch ein Frauen- zimmer mittleren Alters, die, ohne ein Wort zu sagen, uns in ein kleines Hinterzimmer führte, wo ihre ganze Familie sass, schweigend, die Augen auf ein rasch ersterbendes Feuer geheftet. Solche Verödung, solche Hoff- nungslosigkeit hing um diese Leute und ihr kleines Zimmer, dass ich nicht wünsche je eine ähnliche Scene wieder zu sehn. „Nichts haben sie ver- dient, mein Herr“, sagte die Frau, auf ihre Jungen zeigend, „nichts für 26 Wochen, und all unser Geld ist hingegangen, alles Geld, das ich und der Vater in den bessern Zeiten zurücklegten, in dem Wahn eine Reserve während schlechten Geschäfts zu sichern. Sehn Sie es“, schrie sie fast wild, in- dem sie ein Bankbuch hervorholte mit allen seinen regelmässigen Nachweisen über eingezahltes und rückerhaltnes Geld, so dass wir sehn konnten, wie das kleine Vermögen begonnen hatte mit dem ersten Deposit von 5 Shilling, wie es nach und nach zu 20 Pfd. St. aufwuchs, und dann wieder zusammen- schmolz, von Pfunden zu Shillingen, bis der letzte Eintrag das Buch so werthlos machte, wie ein blankes Stück Papier. Diese Familie erhielt ein nothdürftiges Mahl täglich vom Workhouse … Unsre folgende Visite war zur Frau eines Irländers, der an den Schiffswerften gearbeitet hatte. Wir fanden sie krank von Nahrungsmangel, in ihren Kleidern auf eine Matratze gestreckt, knapp bedeckt mit einem Stück Teppich, denn alles Bettzeug war im Pfandhaus. Die elenden Kinder warteten sie und sahen aus als bedürften sie umgekehrt der mütterlichen Pflege. Neunzehn Wochen erzwungnen Müssiggangs hatten sie so weit heruntergebracht, und während sie die Geschichte der bitteren Vergangenheit erzählte, stöhnte sie als ob alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren wäre … Beim Austritt aus dem Hause rannte ein junger Mann auf uns zu und 42*

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Zitationshilfe: Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/678>, abgerufen am 22.07.2024.