Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Mit seinem Dogma werden die gewöhnlichsten Erscheinungen des Produk-
tionsprozesses, wie z. B. dessen plötzliche Expansionen und Kontrak-
tionen, ja die Accumulation, völlig unbegreifbar65). Das Dogma wurde
sowohl von Bentham selbst als von Malthus, James Mill, MacCulloch u. s. w.
zu apologetischen Zwecken vernutzt, namentlich um einen Theil des
Kapitals, das variable oder in Arbeitskraft umsetzbare
Kapital
als eine fixe Grösse darzustellen. Die stoffliche Existenz
des variablen Kapitals, d. h. die Masse der Lebensmittel, die es für den
Arbeiter repräsentirt, oder der s. g. Arbeitsfonds, wurde in einen
durch Naturketten abgeringten und unüberschreitbaren Sondertheil des
gesellschaftlichen Reichthums verfabelt. Um den Theil des gesellschaft-
lichen Reichthums, der als constantes Kapital oder, stofflich ausge-
drückt, als Produktionsmittel funktioniren soll, in Bewegung zu setzen, ist
eine bestimmte Masse lebendiger Arbeit erheischt. Diese ist

keitsprincip beurtheilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im
Allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modificirte Menschen-
natur. Bentham macht kein Federlesens. Mit der naivsten Trockenheit unter-
stellt er den modernen Spiessbürger, speciell den englischen Spiessbürger,
als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmensch und seiner
Welt nützlich, ist an und für sich nützlich. An diesem Massstab beurtheilt er dann
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Z. B. die christliche Religion ist "nütz-
lich", weil sie dieselben Missethaten religiös verpönt, die der Strafcodex juristisch
verdammt. Kunstkritik ist "schädlich", weil sie ehrbare Leute in ihrem Genuss
an Martin Tupper stört u. s. w. Mit solchem Schund hat der brave Mann, dessen
Devise: "nulla dies sine linea", Berge von Büchern gefüllt. Wenn ich die
Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in
der bürgerlichen Dummheit nennen.
65) "Politische Oekonomen sind zu geneigt, eine bestimmte Quantität von
Kapital und eine bestimmte Anzahl Arbeiter als Produktionsinstrumente von gleich-
förmiger Kraft und als mit einer gewissen gleichförmigen Intensivität wirkend zu
behandeln . . . . Diejenigen, die behaupten, dass Waaren die einzigen Agenten
der Produktion sind, beweisen, dass die Produktion überhaupt nicht erweitert
werden kann, denn zu einer solchen Erweiterung müssten Lebensmittel, Rohmate-
rialien und Werkzeuge vorher vermehrt werden, was in der That darauf hinaus
kömmt, dass kein Wachsthum der Produktion ohne ihr vorheriges Wachsthum
stattfinden kann, oder, in andern Worten, dass jedes Wachsthum unmöglich ist."
(S. Bailey: "Money and its Vicissitudes", p. 26 u. 70.) Bailey
kritisirt das Dogma hauptsächlich vom Standpunkt des Cirkulationspro-
zesses
.

Mit seinem Dogma werden die gewöhnlichsten Erscheinungen des Produk-
tionsprozesses, wie z. B. dessen plötzliche Expansionen und Kontrak-
tionen, ja die Accumulation, völlig unbegreifbar65). Das Dogma wurde
sowohl von Bentham selbst als von Malthus, James Mill, MacCulloch u. s. w.
zu apologetischen Zwecken vernutzt, namentlich um einen Theil des
Kapitals, das variable oder in Arbeitskraft umsetzbare
Kapital
als eine fixe Grösse darzustellen. Die stoffliche Existenz
des variablen Kapitals, d. h. die Masse der Lebensmittel, die es für den
Arbeiter repräsentirt, oder der s. g. Arbeitsfonds, wurde in einen
durch Naturketten abgeringten und unüberschreitbaren Sondertheil des
gesellschaftlichen Reichthums verfabelt. Um den Theil des gesellschaft-
lichen Reichthums, der als constantes Kapital oder, stofflich ausge-
drückt, als Produktionsmittel funktioniren soll, in Bewegung zu setzen, ist
eine bestimmte Masse lebendiger Arbeit erheischt. Diese ist

keitsprincip beurtheilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im
Allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modificirte Menschen-
natur. Bentham macht kein Federlesens. Mit der naivsten Trockenheit unter-
stellt er den modernen Spiessbürger, speciell den englischen Spiessbürger,
als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmensch und seiner
Welt nützlich, ist an und für sich nützlich. An diesem Massstab beurtheilt er dann
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Z. B. die christliche Religion ist „nütz-
lich“, weil sie dieselben Missethaten religiös verpönt, die der Strafcodex juristisch
verdammt. Kunstkritik ist „schädlich“, weil sie ehrbare Leute in ihrem Genuss
an Martin Tupper stört u. s. w. Mit solchem Schund hat der brave Mann, dessen
Devise: „nulla dies sine linea“, Berge von Büchern gefüllt. Wenn ich die
Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in
der bürgerlichen Dummheit nennen.
65) „Politische Oekonomen sind zu geneigt, eine bestimmte Quantität von
Kapital und eine bestimmte Anzahl Arbeiter als Produktionsinstrumente von gleich-
förmiger Kraft und als mit einer gewissen gleichförmigen Intensivität wirkend zu
behandeln . . . . Diejenigen, die behaupten, dass Waaren die einzigen Agenten
der Produktion sind, beweisen, dass die Produktion überhaupt nicht erweitert
werden kann, denn zu einer solchen Erweiterung müssten Lebensmittel, Rohmate-
rialien und Werkzeuge vorher vermehrt werden, was in der That darauf hinaus
kömmt, dass kein Wachsthum der Produktion ohne ihr vorheriges Wachsthum
stattfinden kann, oder, in andern Worten, dass jedes Wachsthum unmöglich ist.“
(S. Bailey: „Money and its Vicissitudes“, p. 26 u. 70.) Bailey
kritisirt das Dogma hauptsächlich vom Standpunkt des Cirkulationspro-
zesses
.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0616" n="597"/>
Mit seinem Dogma werden die gewöhnlichsten Erscheinungen des Produk-<lb/>
tionsprozesses, wie z. B. dessen plötzliche Expansionen und Kontrak-<lb/>
tionen, ja die Accumulation, völlig unbegreifbar<note place="foot" n="65)">&#x201E;Politische Oekonomen sind zu geneigt, eine bestimmte Quantität von<lb/>
Kapital und eine bestimmte Anzahl Arbeiter als Produktionsinstrumente von gleich-<lb/>
förmiger Kraft und als mit einer gewissen gleichförmigen Intensivität wirkend zu<lb/>
behandeln . . . . Diejenigen, die behaupten, dass <hi rendition="#g">Waaren</hi> die einzigen Agenten<lb/>
der Produktion sind, beweisen, dass die Produktion überhaupt nicht erweitert<lb/>
werden kann, denn zu einer solchen Erweiterung müssten Lebensmittel, Rohmate-<lb/>
rialien und Werkzeuge vorher vermehrt werden, was in der That darauf hinaus<lb/>
kömmt, dass kein Wachsthum der Produktion ohne ihr vorheriges Wachsthum<lb/>
stattfinden kann, oder, in andern Worten, dass jedes Wachsthum unmöglich ist.&#x201C;<lb/>
(S. <hi rendition="#g">Bailey</hi>: &#x201E;<hi rendition="#g">Money and its Vicissitudes</hi>&#x201C;, p. 26 u. 70.) Bailey<lb/>
kritisirt das Dogma hauptsächlich vom Standpunkt des <hi rendition="#g">Cirkulationspro-<lb/>
zesses</hi>.</note>. Das Dogma wurde<lb/>
sowohl von Bentham selbst als von Malthus, James Mill, MacCulloch u. s. w.<lb/>
zu apologetischen Zwecken vernutzt, namentlich um <hi rendition="#g">einen Theil des<lb/>
Kapitals, das variable oder in Arbeitskraft umsetzbare<lb/>
Kapital</hi> als eine <hi rendition="#g">fixe Grösse</hi> darzustellen. Die stoffliche Existenz<lb/>
des variablen Kapitals, d. h. die Masse der Lebensmittel, die es für den<lb/>
Arbeiter repräsentirt, oder der s. g. <hi rendition="#g">Arbeitsfonds</hi>, wurde in einen<lb/>
durch Naturketten abgeringten und unüberschreitbaren <hi rendition="#g">Sondertheil</hi> des<lb/>
gesellschaftlichen Reichthums verfabelt. Um den Theil des gesellschaft-<lb/>
lichen Reichthums, der als <hi rendition="#g">constantes</hi> Kapital oder, stofflich ausge-<lb/>
drückt, als Produktionsmittel funktioniren soll, in Bewegung zu setzen, ist<lb/>
eine <hi rendition="#g">bestimmte Masse lebendiger Arbeit</hi> erheischt. Diese ist<lb/><note xml:id="seg2pn_92_2" prev="#seg2pn_92_1" place="foot" n="64)">keitsprincip beurtheilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im<lb/>
Allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modificirte Menschen-<lb/>
natur. Bentham macht kein Federlesens. Mit der naivsten Trockenheit unter-<lb/>
stellt er den modernen Spiessbürger, speciell den <hi rendition="#g">englischen Spiessbürger</hi>,<lb/>
als den <hi rendition="#g">Normalmenschen</hi>. Was diesem Kauz von Normalmensch und seiner<lb/>
Welt nützlich, ist an und für sich nützlich. An diesem Massstab beurtheilt er dann<lb/>
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Z. B. die christliche Religion ist &#x201E;nütz-<lb/>
lich&#x201C;, weil sie dieselben Missethaten religiös verpönt, die der Strafcodex juristisch<lb/>
verdammt. Kunstkritik ist &#x201E;schädlich&#x201C;, weil sie ehrbare Leute in ihrem Genuss<lb/>
an Martin Tupper stört u. s. w. Mit solchem Schund hat der brave Mann, dessen<lb/>
Devise: &#x201E;nulla dies sine linea&#x201C;, Berge von Büchern gefüllt. Wenn ich die<lb/>
Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in<lb/>
der bürgerlichen Dummheit nennen.</note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[597/0616] Mit seinem Dogma werden die gewöhnlichsten Erscheinungen des Produk- tionsprozesses, wie z. B. dessen plötzliche Expansionen und Kontrak- tionen, ja die Accumulation, völlig unbegreifbar 65). Das Dogma wurde sowohl von Bentham selbst als von Malthus, James Mill, MacCulloch u. s. w. zu apologetischen Zwecken vernutzt, namentlich um einen Theil des Kapitals, das variable oder in Arbeitskraft umsetzbare Kapital als eine fixe Grösse darzustellen. Die stoffliche Existenz des variablen Kapitals, d. h. die Masse der Lebensmittel, die es für den Arbeiter repräsentirt, oder der s. g. Arbeitsfonds, wurde in einen durch Naturketten abgeringten und unüberschreitbaren Sondertheil des gesellschaftlichen Reichthums verfabelt. Um den Theil des gesellschaft- lichen Reichthums, der als constantes Kapital oder, stofflich ausge- drückt, als Produktionsmittel funktioniren soll, in Bewegung zu setzen, ist eine bestimmte Masse lebendiger Arbeit erheischt. Diese ist 64) 65) „Politische Oekonomen sind zu geneigt, eine bestimmte Quantität von Kapital und eine bestimmte Anzahl Arbeiter als Produktionsinstrumente von gleich- förmiger Kraft und als mit einer gewissen gleichförmigen Intensivität wirkend zu behandeln . . . . Diejenigen, die behaupten, dass Waaren die einzigen Agenten der Produktion sind, beweisen, dass die Produktion überhaupt nicht erweitert werden kann, denn zu einer solchen Erweiterung müssten Lebensmittel, Rohmate- rialien und Werkzeuge vorher vermehrt werden, was in der That darauf hinaus kömmt, dass kein Wachsthum der Produktion ohne ihr vorheriges Wachsthum stattfinden kann, oder, in andern Worten, dass jedes Wachsthum unmöglich ist.“ (S. Bailey: „Money and its Vicissitudes“, p. 26 u. 70.) Bailey kritisirt das Dogma hauptsächlich vom Standpunkt des Cirkulationspro- zesses. 64) keitsprincip beurtheilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im Allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modificirte Menschen- natur. Bentham macht kein Federlesens. Mit der naivsten Trockenheit unter- stellt er den modernen Spiessbürger, speciell den englischen Spiessbürger, als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmensch und seiner Welt nützlich, ist an und für sich nützlich. An diesem Massstab beurtheilt er dann Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Z. B. die christliche Religion ist „nütz- lich“, weil sie dieselben Missethaten religiös verpönt, die der Strafcodex juristisch verdammt. Kunstkritik ist „schädlich“, weil sie ehrbare Leute in ihrem Genuss an Martin Tupper stört u. s. w. Mit solchem Schund hat der brave Mann, dessen Devise: „nulla dies sine linea“, Berge von Büchern gefüllt. Wenn ich die Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in der bürgerlichen Dummheit nennen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/616
Zitationshilfe: Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/616>, abgerufen am 24.11.2024.